Orts­bes­timmung im Paradies:
Koor­di­naten des Utopis­chen
Martin Henatsch

 54°4 min., eine rätsel­hafte Betitelung und zugleich unvoll­ständige Ortsangabe, mit der Thorsten Gold­berg nicht nur seine Ausstel­lung und das beglei­tende Buch, sondern auch eine für sein Werk zentrale Arbeit über­schreibt: Rätsel­haft, bleibt doch zunächst die Bedeu­tung dieses Kürzels im Unklaren – Kombi­nation einer Temper­atur und Zeitangabe oder Nennung von geografis­chen Koor­di­naten? Unvoll­ständig, fehlt doch als entschei­dende Präzisierung des Stan­dortes die zweite Koor­dinate, der Breiten- oder Längen­grad. In dieser Unbes­timmtheit, mit diesem Entzug entschei­dender Deter­mi­nanten für die Defi­n­ition von thema­tisierten Orten, zeigt sich ein grundle­gendes Prinzip der Arbeitsweise des Künstlers. Erst ein Blick auf die Land­karte offen­bart, worum es dem Künstler geht. Der Ort der Ausstel­lung, die von dieser Publika­tion begleitet wird, liegt auf dem 54. Breit­engrad. Gold­berg spannt mit der Nennung lediglich der geografis­chen Breite eine fiktive Verbindungslinie von seinen Ausstel­lung­sorten zu fernen, verheißungsvoll erscheinenden und zugleich weit­gehend unbekan­nten Orten, zu deren voll­ständiger Bestim­mung er jedoch die Länge­nangabe weglässt. Schon bei früheren Arbeiten verwen­dete der Künstler Posi­tions­bes­tim­mungen. Bei Dograce + Steep Holm wird auf den Breit­engrad 51°20’23“N verwiesen, auf dem zugleich die geplante Justizvol­lzugsanstalt Heidering, für die Gold­berg einen Entwurf entwickelt hat, wie auch die wali­sische Insel Steep Holm liegen. Bei Green Island Switch (as the crow flies) bildet der Ausstel­lungsort im polnis­chen Radom den Ausgangspunkt für eine gedankliche Achse gen Westen. Und schließlich 54°4 min.: Eine Routenbeschrei­bung, die per Anweisung eines digi­talen Routen­finders direkt von der Gerisch-Stiftung in Neumün­ster zum Wee Geordies’s Neigh­bourhood Pub und weiter bis auf die Insel Lucy Island an der kanadis­chen West­küste führt.

Mit seinem strikten Folgen auf den Pfaden eines Breit­en­grades in Rich­tung Westen bezieht sich Thorsten Gold­berg nicht nur auf das allseits beliebte Spiel, einen Globus – oder heute die digi­tale Erdkugel am Bild­schirm – in Rota­tion zu versetzen und dann mit Span­nung zu erwarten, auf welchen Ort der Finger bzw. Cursor weisen wird, wenn die Welt zum Still­stand kommt. Dabei zieht er auch eine historische Paral­lele: Hangelten sich doch die großen Seefahrer und Reisenden früherer Jahrhun­derte möglichst entlang eines Breit­en­grades in Rich­tung Westen, da sich anhand des Sonnen­standes die geografische Höhe, auf der man sich parallel zum Äquator um die Erde bewegte, relativ leicht bestimmen ließ; die genaue Posi­tions­bes­timmung auf dieser Linie, also die Bestim­mung des Längen­grades und somit der zurück­gelegten Entfer­nung vom Ausgang­shafen, war hingegen eines der kompliziertesten Prob­leme der Entdeck­ungs­geschichte und blieb über Jahrhun­derte unbekannt. Sie war schließlich nur über eine verbesserte Zeitmes­sung möglich und konnte erst Mitte des 18. Jahrhun­derts von dem englis­chen Uhrma­cher John Harrison (1693–1776) gelöst werden, nachdem dieser Uhrw­erke entwickelt hatte, die auch über viele Wochen Seereise akkurat und ohne Verzögerung liefen.(1)

Der Zug entlang der Breit­en­grade war aber nicht nur dem Drang nach besserem Verständnis der Erde, sondern zugleich der Verheißung geschuldet, dabei auf ein bisher unbekan­ntes, jedoch als exis­tent angenommenes paradiesis­ches Land zu stoßen. Schließlich galt das Paradies, aus dem einst Adam und Eva vertrieben worden waren, als fester Bestandteil der zu erforschenden Erdgeografie. Und schon – so nahm man an – die Völker in deren Nähe müssten von dem reinen natür­lichen und mit der Natur harmonierendem Urzu­stand, den einst Adam und Eva genießen konnten, geprägt sein. Die Begeg­nung mit soge­nannten Naturvölkern wäre somit ein Indiz für die Nähe zum gesuchten Paradies. (2) Entsprechend wurden die Wunder des Westens schon lange vor den Entdeck­ungsreisen, beispiel­sweise des Christoph Kolumbus in die Neue Welt, gepriesen. An Orten der „Neuen Welt“, wie Atlantis oder den Seligen Inseln, vermutete und erwartete man glück­liche, in Eintracht mit sich und der Natur lebende Menschen, also das Paradies. Den kulturellen Rahmen für diese Traum­geografien findet man zuallererst in zahlre­ichen mitte­lal­ter­lichen Paradies-Beschrei­bungen. Schon die Chro­nisten der frühen Neuzeit schildern diese „Neue Welt“ übere­in­stimmend in Termini eines paradiesis­chen gold­enen Zeital­ters. (3)

Schickt uns Thorsten Gold­berg also mit seiner Reisean­leitung 54°4 min. nicht nur zu einer beliebigen Insel­gruppe in British Columbia, sondern zugleich auch auf die Suche nach einem fernen Paradies? Die Lucy Islands, ebenso wie alle anderen von ihm auserko­renen breit­engrad­ab­hängigen Eilande, stellen sich jedoch als unspek­takuläre und unbe­deu­tende Orte heraus, meist lediglich mit einem ihre Posi­tion bestim­menden Seeze­ichen versehen. Es sind Orte ohne beson­dere Bedeu­tung für den Rest der Welt, ohne heraus­ra­gende Attrak­tionen, außer eben ihrer zufäl­ligen Lage genau west­lich des Ausgangspunktes des Künstlers. Sie erweisen sich als scheinbar willkür­liche, sich als geradezu zwangsläufig herausstel­lende Ziele einer Finger­reise, für die uns der Künstler eine von Google Maps abgeleitete Routenbeschrei­bung liefert. Diese führt uns mit diversen Bildern entlang der Strecke direkt von Neumün­ster bis an die kanadische West­küste von British Columbia. Von Google Earth entnommene Fotos illus­trieren die einzelnen Stationen der fantastis­chen Reise. Es sind unwirk­liche Orte im Nirgendwo: Leer­stellen, die offen für Projek­tionen und Sehn­süchte sind – auch für Vorstel­lungen vom Paradies.

Ähnlich Green Island (as the crow flies): Hier wählte der Künstler den Ausgangspunkt Radom für seine Finger­reise entlang eines Breit­en­grades. Sie ließ ihn dieses Mal an der Küste Neufund­lands landen, 5.130 km west­lich von Radom. Auf seiner imag­inären Reise schnurg­erade west­wärts bot ihm ein Seeze­ichen das erste Stopp-gebi­etende rote Licht, welches er als Zeichen deutete, das Ziel seiner Reise gefunden zu haben. Als Symbol für die gleicher­maßen zufäl­lige wie math­e­ma­tisch strin­gente Verbindung dieser fernen Küsten­land­schaft mit dem polnis­chen Ausstel­lungsort entwarf er einen Nachbau des Seeze­ichens als Skulptur in Radom. Einer­seits erscheinen diese Zielpunkte geradezu willkür­lich – eine unbe­deu­tende Fels­eninsel, von der es unzäh­lige gibt, ein Stückchen Erde, das auf keiner Land­karte beson­ders verze­ichnet ist –, ander­er­seits sind sie inner­halb der künst­lerischen Konzep­tion Gold­bergs Ergebnis eines geradezu zwangsläu­figen Vorge­hens. Was sollte auch willkür­lich daran sein, so fragt der Künstler, einen bestimmten Weg der Erdro­tation folgend so lange zu gehen, bis man an einem Seeze­ichen oder in einem Pub landet. Er stellt damit die übliche Logik touris­tischer Reise­pläne, denen immer auch etwas von der Suche nach dem Paradies anhaftet, infrage.

Warum führt uns der Künstler an solche Orte? Ist es die gleiche Suche nach verheißungsvollen Orten, die als eine der Konstanten menschlicher Kulturen Entdecker aller Zeiten zum Paradies ausziehen ließ? (4) Entdeck­ungsreisen waren wohl immer verbunden mit der Suche nach dem verlorenen Paradies, dem gold­enen Zeitalter – wie zeit- und milieuge­bunden dieser Trau­mort auch konstru­iert gewesen sein mag. Selbst die Reisen von Christoph Kolumbus galten überdies der Entdeckung des irdis­chen, von ihm im Osten angenommenen Paradieses über den west­lichen Seeweg. Schließlich iden­ti­fizierte er auf seiner dritten Fahrt (1498–1500) den Orinoko-Fluss als einen der vier Paradiesströme und erkannte während eines Aufen­thaltes auf Haiti – bestes Beispiel für die Über­schreibung der Orte mit Fantasien der in diesem Fall nach langer Fahrt ausge­hungerten Seeleute –, dass die Erde nicht so sehr rund als vielmehr birnen­förmig sei … „wie eine Frauen­brust“. (5)

Die sehn­suchts­be­setzte Ferne, die selbst der virtuell Reisende Thorsten Gold­berg in der Real­ität wahrschein­lich niemals betreten wird, kann letztlich fantastis­cher sein als alles, was man als real Reisender vor Ort erleben könnte. Zugleich spiegelt sich in der heute durch digi­tale Routen­findung perfek­tion­ierten gedanklichen Reisetätigkeit ein melan­cholisches Wohlge­fallen daran, dass es jene Ferne gibt, die wir, ähnlich wie Karl May den Wilden Westen, vom heimis­chen Schreibtisch aus entdecken und uns dabei im Altver­trauten wunderbar geborgen fühlen können (6) – einer­seits: Ander­er­seits führt ein heute zunehmend stan­dar­d­isiertes, konsumentenori­en­tiertes und market­inggeleitetes Fernweh auch zu einer kontin­genten Austauschbarkeit der Reiseziele, die mehr und mehr durch die Stereo­typen strahlender Urlaub­s­land­schaften als durch deren Real­itäts­gehalt geprägt sind. Indem wir ferne Paradiese über die virtuelle Karte, den Reisekat­alog oder via Traum­schiff-Romanze aufsuchen, berauben wir sie para­dox­er­weise eines Teils ihrer Authen­tizität. Ihre Ubiq­uität verwan­delt sie in austauschbare Bausteine allge­mein gültiger und kulturell einförmig geprägter Sehnsuchtsvorstellungen.

Was aber macht einen beliebigen Punkt auf der Land­karte zum bemerkenswerten und in die allge­meine Land­karte öffentlichen Bewusst­seins einzuschreibenden Ort? Welche Gründe gibt es dafür, dass wir bestimmte Plätze als bedeu­tende Orte ansehen, andere hingegen kein­erlei Aufmerk­samkeit erfahren? Und was geschieht mit einem Ort, wenn er plöt­zlich aus der Ferne, z. B. durch die künst­lerische Arbeit Gold­bergs, ungeahnte Aufmerk­samkeit erfährt? Der franzö­sische Viel­reisende, Diplomat und Literat François-René de Chateaubriand (1768–1848) beschreibt in seiner „Reise von Paris nach Jerusalem“ sehr anschaulich, wie sich der Charakter der besichtigten Attrak­tionen auf der Attika verän­dert: je weiter er sich von ihnen entfernt „desto schöner leuchteten die Säulen von Sunium über den Fluten“ (7). Der franzö­sische Ethnologe und Anthro­pologe Marc Augé sieht in der Entfer­nung vom Ort gar den idealen Stand­punkt für dessen Defi­n­ition: „Diese Aufhe­bung des Ortes ist der Höhep­unkt der Reise“. (8) Augé unter­sucht in seiner Abhand­lung „Nicht-Orte“ sehr einge­hend die Mech­a­nismen, die einen Punkt oder einen Raum auf unserer Erde zu einem „Ort“ werden lassen und unter­scheidet diese von „Nicht-Orten“. Während für ihn der Ort sowohl anthro­pol­o­gisch als auch sozial deter­miniert, also historisch aufge­laden und für die Menschen mit konkreten Ereignissen verbunden ist, so kennze­ichnet den „Nicht-Ort“ seine Über­schreibung mit möglicher­weise ortsun­ab­hängigen Erzäh­lungen, Projek­tionen und Sehn­süchten. „So wie ein Ort durch Iden­tität, Rela­tion und Geschichte gekennze­ichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Iden­tität besitzt und sich weder als rela­tional noch als historisch beze­ichnen lässt, einen Nicht-Ort. … Räume, die selbst keine anthro­pol­o­gischen Orte sind.“ (9) Nicht-Orte sind demnach prinzip­iell austauschbar und beziehen ihren Charakter aus der projek­tiven Erwartung­shaltung des Erzäh­lers, Betra­chters oder Entdeckers. „Die Vermit­tlung, die das Band zwis­chen den Indi­viduen und ihrer Umge­bung im Raum des Nicht-Ortes herstellt, erfolgt über Worte und Texte. (…) Manche Orte existieren nur durch die Worte, die sie beze­ichnen, und sind in diesem Sinne Nich­tOrte oder vielmehr imag­inäre Orte, banale Utopien, Klis­chees.“ (10)

In diesem Sinne wären jene fernen Punkte, die Thorsten Gold­berg aufgrund provozierter Zufäl­ligkeit im Rahmen seines Konzeptes für seine künst­lerische Arbeit auserkoren hat, zunächst als Orte zu definieren. Der Pub kurz vor der Pazi­fikküste von British Columbia, die winzige Insel mit Leucht­turm in der Poyll Vaaish Bay, ein ca. 1 m² großer karger Felsen vor der Küste von Labrador oder das einsame Seeze­ichen auf den Lucy Islands – all dies Stationen der virtuellen Reisen des Künstlers – konsti­tu­ieren ein Stückchen Erde zumin­dest für die in der Nähe wohnenden Menschen, die möglicher­weise konkrete Erleb­nisse mit diesen Punkten verbinden, als Ort. Welche Bedeu­tung aber hat dieser lokal definierte Ort für die künst­lerische Weltöf­fentlichkeit? Diese folgt lediglich der von Gold­berg angeleit­eten sehn­sucht­ser­füllten Suche nach dem beson­deren Ort auf der anderen Seite der Erde. Er wird damit zur Projek­tions­fläche künst­lerischer, aber auch ganz persön­licher Sehn­süchte und Erwartungen, die zunächst wenig oder gar nichts mit diesem zu tun haben. Thorsten Gold­berg destru­iert dessen Ortshaftigkeit und erklärt ihn entsprechend der Vermark­tungsmech­a­nismen der Touris­musin­dustrie zu einem letztlich austauschbaren Nich­tOrt. Es geht ihm um jenes sich ständig verän­dernde Wech­selver­hältnis zwis­chen dem von persön­lichen Erleb­nissen, authen­tischer Charak­ter­istik und sozialer Geschichte geprägten Ort und deren Über­formung durch eine seit dem 20. Jahrhun­dert durch Massen­tourismus und zunehmender virtueller Darstel­lung oder gar Simu­la­tionen gekennze­ichnete Beset­zung. Das sich immer wieder neu ergebende und ständiger Neuüber­schreibung ausge­setzte Wech­sel­spiel von Ortshaftigkeit und deren Über­formung zum – eventuell paradiesis­chen – Nicht-Ort ist Thema seiner künst­lerischen Unter­suchung. Der „Ort verschwindet niemals voll­ständig, und der Nicht-Ort stellt sich niemals voll­ständig her – es sind Palimpseste, auf denen das verwor­rene Spiel von Iden­tität und Rela­tion ständig aufs Neue seine Spiegelung findet.“ (11) Es sind Koor­di­naten des Utopis­chen, mit denen Gold­berg die grund­sät­zlich projek­tive und damit austauschbare, also ortlose Über­schreibung jedes Ortes zum Ausgangspunkt seiner künst­lerischen Arbeit erklärt.

In welchem Verhältnis steht unsere heutige Google Earth-geleitete Entdeck­er­freude zu den Sehn­süchten nach den Paradiesen früherer Jahrhun­derte? Dies ist eine weitere Frage, die Gold­berg nicht nur mit 54°4 min. stellt: Immer wieder führt er uns in der allge­meinen Wahrnehmung nicht weiter definierte Orte vor, die er durch künst­lerische Aufladung zu Stel­lvertretern von Sehn­süchten nach der Iden­tität von Orten erklärt. Schon in einer seiner früh­esten Arbeiten für den öffentlichen Raum publiziert er die Postkarte einer befre­un­deten Stew­ardess: Nach­hausegehen Zuhaus­esein Zuhause­bleiben (1991). Auf zehn groß­for­matigen Werbetafeln plakatierte er in der Stuttgarter Innen­stadt vergrößerte Postkarten, die ihm von der vielfliegenden Freundin aus exotis­chen Ländern zugeschickt worden waren. Ursprünglich mit fernen Zielen verknüpfte Träume entpuppen sich dabei als ortsun­ab­hängige und austauschbare Sehn­süchte. Sie erweisen sich mehr als Spiegelungen der subjek­tiven Bedürfnisse der Reisenden denn als Beschrei­bung der genan­nten Orte: „bin mal wieder auf Kurztrip in Rio. Weih­nachten war recht öde (every­thing closed in New York!!) Sylvester dafür eine Schweißtreibende Latino­tanz­nacht bis zum Umfallen.“ (12)

Auch in seinem Entwurf Dograce + Steep Holm (13) für die neu zu bauende Justizvol­lzugsanstalt Heidering im Land Bran­denburg hat Gold­berg 2010 zwei höchst unter­schiedliche Orte in einen imag­inären Zusam­menhang gebracht: Vor der Eröff­nung der Vollzugsanstalt, auf die sich der künst­lerische Wettbe­werb bezog, sollte das Gelände entlang seines 1,3 km langen Doppelza­unes Schau­platz für ein Wind­hun­drennen werden. Dieses plante er mit Hochgeschwindigkeit­skameras so festzuhalten, dass die eigentlich etwa 90 Sekunden in extremer Verlangsamung in einer bis zu 100 Stunden währenden Großpro­jektion inner­halb der Vollzugsanstalt gezeigt werden könnte. Eine der zwei perma­nent geplanten Film­pro­jek­tionen sollte die hinter einem künstlichen Hasen her hetzenden Wind­hunde doku­men­tieren. Deren kreis­för­miger Lauf entspräche der in die Vertikale gedrehten Projek­tion eines Flugzeuges, das die auf demselben Breit­engrad liegende Insel Steep Holm umfliegt. Dem künstlichen Hasen entsprechend, der den Hetztrieb der Wind­hunde anheizt, würde das Flugzeug ein himmel­blaues Trans­parent zur Anima­tion des menschlichen Jagdtriebs durch die Luft ziehen. Der Künstler bringt somit zwei sich wieder­holende Kreis­läufe voller Verheißungen in eine formale, geografische wie auch inhaltliche Verbindung. Es sind zwei nicht erfüll­bare Glücksver­sprechen, Chimären tierischer wie menschlicher Sehn­süchte. So wenig die Rennhunde das flat­ternde Objekt ihrer Begierde jemals erre­ichen werden, so unre­al­is­tisch ist es, dass das blaue Stückchen Himmel hinter dem Flugzeug die Sehn­sucht seiner Betra­chter wird stillen können; dies umso weniger, wenn man in einer Vollzugsanstalt einsitzt und der ferne Himmel zwangsläufig von Gefäng­nis­mauern abgeschot­tete Projek­tions­fläche bleiben muss. Obgleich diese auf den Präsen­ta­tionsort inhaltlich abges­timmte Arbeit für die ihrer Bewe­gungs­freiheit beraubten Insassen nicht ohne bitteren Beigeschmack ist, offen­bart sie doch, auch unab­hängig von der Frei­heit­sein­schränkung der Inhaftierten, ihren allge­me­ingültigen Symbol­gehalt für den als anthro­pol­o­gische Konstante anzunehmenden Zug des Menschen in eine als positiv definierte Ferne. Diese Sehn­sucht aber definiert Gold­berg hier unter den Bedin­gungen der eingeschränkten Bewe­gungs­freiheit des Betra­chters bzw. des zwang­haften Nach­hetzens hinter dem Köder. Der Entzug wesentlicher, den Raum unter normalen Bedin­gungen bestim­mender Faktoren, wird erneut zum Ausgangspunkt der Arbeit erklärt.

Über Jahrzehnte kreiste die Diskus­sion um Kunst im öffentlichen Raum um das Para­digma der Ortsspez­i­fität. Als Antwort auf die vor allem in der Nachkriegszeit prak­tizierte Aufstel­lung von Drop-Sculp­tures – also beliebig und weit­gehend unab­hängig vom Umfeld abgestellte, zumeist unge­gen­ständliche Plas­tiken, deren Autonomiecharakter gerade auf ihrer vorge­blichen Kontext­losigkeit beruhte – entdeckten für die weitere Entwick­lung der Kunst im öffentlichen Raum prägende Künstler wie z. B. Richard Serra die Site-Speci­fity. (14) Bereits Ende der 1960er Jahre verließ Serra den bis dahin von der Moderne geset­zten funda­men­talen Rahmen der Selb­stre­f­erenz, hebt er doch das moderne Konzept des mobilen Kunst­werks, der flex­ibel zu arrang­ierenden Posi­tion­ierung von Plas­tiken zugun­sten einer ortspez­i­fischen Posi­tion­ierung auf: „Stan­dort­spez­i­fische Werke stehen nicht isoliert, sondern in Abhängigkeit zu den sie umgebenden Bedin­gungen. Ihr Ausmaß, ihre Größe und Platzierung sind durch die Topografie der Umge­bung deter­miniert, sei diese nun städtis­cher oder land­schaftlicher Natur. Die Werke werden zu einem Bestandteil ihres Ortes…“ (15) Dazu analysierte Serra mit seinen monu­men­talen Stahlskulp­turen die spez­i­fischen Kompo­nenten ihrer Umge­bung. Sein wegweisender Ansatz von Site-Speci­fity bestand in der künst­lerischen Sicht­bar­ma­chung der urbanen, historischen und ästhetis­chen Struk­turen der Orte, für die er seine Skulp­turen schuf.

Auch Thorsten Gold­berg gilt dieses Vermächtnis als wichtige Regel, wenn er mit der stilis­tischen Vielfalt seiner zahlre­ichen Arbeiten im öffentlichen Raum die jeweiligen Erfordernisse seiner Orte vor das Prinzip künst­lerischer Wieder­erkennbarkeit, also einer Hand­schrift, stellt. Diese Konzepte geraten jedoch spätestens in den 1990er Jahren in eine Sack­gasse. Das klas­sische, die Entwick­lung der Kunst im öffentlichen Raum befeuernde Gegenüber von bürg­er­licher Kritik und Obrigkeit scheint sich in dem Maße aufzulösen, wie die abgrenzbare Iden­tität von Öffentlichkeit bestim­menden Orten infrage gestellt wird. Entsprechend unter­läuft Gold­berg trotz orts­be­zo­gener Recherche für all seine Projekte die Spez­ifika dieser Orte und deren Kontextualität.

Seine Arbeiten dienen weniger der Markierung oder Iden­ti­fizierung eines Ortes; sie sind keine Land­marken, die beispiel­sweise die Route der Indus­triekultur im Ruhrge­biet orien­tierungss­tiftend als weithin sicht­bare topografische Wahrze­ichen kennze­ichnen. Im Gegen­satz führen Gold­bergs Projekte, indem er imag­inäre Verbindungslinien von seinen Orten zu zufällig gefun­denen, weit entfer­nten, nahezu unbekan­nten und kaum erre­ich­baren Zielen zieht, zu einer Aufhe­bung der Iden­tität der von ihm bespielten Orte, erklärt er sie doch primär zu Ausgang­sorten für die gedanklichen Reisen zu fernen Zielen. Dabei löst er nicht nur die konkrete Ortshaftigkeit seiner Ziele ins Unbes­timmte und Austauschbare auf, sondern zugleich die der Stan­dorte seiner Arbeiten und Ausstel­lungen. Er rückt damit jene Nicht-Ortshaftigkeit ins Zentrum seiner künst­lerischen Unter­suchung, die Marc Augé im Gegen­satz zu der an Ortspez­i­fität gebun­denen Moderne für Kennze­ichen einer „Über­moderne“ hält: „An den Nicht-Orten der Über­moderne gibt es stets einen speziellen Platz, an denen ‚Sehenswürdigkeiten‘ als solche präsen­tiert werden – Ananas von der Elfen­beinküste, Venedig, die Stadt der Dogen, Tanger, die Ausgrabungen von Allésia.“ (16)

Gold­berg, einer­seits aus der Tradi­tion der Ortsspez­ifik kommend, stellt diese Kate­gorie ander­er­seits subtil infrage und wendet sich damit von dem bestim­menden Credo einer über 40-jährigen Tradi­tion von Kunst im öffentlichen Raum ab: So auch mit der 2012 von ihm im norwegis­chen Bergen errichteten 416 m² großen Metall­fläche 60°N 05°E (encased water­side), die sich wie ein Waben­muster über einen kleinen inner­städtischen Küsten­streifen zieht. Es handelt sich um eine monu­mentale, an den Fels­grund angepasste und in etwa 50 cm Boden­höhe instal­lierte spiegelnde Fläche. Sie ist das Ergebnis eines inter­na­tionalen Wettbe­werbs, den der Künstler 2010 gewonnen hat. Obwohl diesmal sogar bereits im Titel mit nördlichen wie östlichen Koor­di­naten versehen, konterkariert die Arbeit erneut die Iden­tität ihres Ortes. Nimmt doch schon allein die Spiegelplatte, die wie ein rechteck­iges, über den Felsen­streifen bis auf die Straße reichendes, ausgelegtes Tuch über der Bucht liegt, kaum Rück­sicht auf die städte­baulichen und geografis­chen Bedin­gungen. Es ist eine Art Anti-Skulptur, die gerade nicht den Charakter bzw. die Iden­tität dieses Ortes hervorzuheben sucht, dafür aber – wie der Künstler prophezeit – bei der näch­sten fotografis­chen Aktu­al­isierung per Google-Satellit das Spiegel­bild des sie fotografierenden Trabanten wiedergeben müsste: eine ihre Aufnahme selbst reflek­tierende Skulptur für den näch­sten Google Earth­Reisenden. So wie die Staffelei des Malers im Spiegel oder Lüster des Interieurs auf die persön­liche Autorschaft und den Entste­hung­sprozess des Gemäldes hinweist, so würde der Satellit sich als Zeichen weltumspan­nender Erfass­barkeit und Verw­ert­barkeit in die Skulptur einschreiben. Dessen idealer Betra­chter­stand­punkt wäre weniger an seinem realen Ort als am heimis­chen Comput­er­bild­schirm zu suchen.

Wie kann über­haupt ein solcher­maßen von eindrucksvoller Land­schaft geprägter Ort skulp­tural thema­tisiert werden? Ist nicht angesichts der Einzi­gar­tigkeit der norwegis­chen Fjord­land­schaft jeder Versuch einer skulp­turalen Markierung, Über­höhung oder Inter­pre­tation letztlich der Lächer­lichkeit und der Gefahr des Abrutschens in land­schaftliche Klis­chees preis­gegeben? Gold­berg antwortet auf diese Fragen mit einem silbernen Tuch und kontert die beein­druckende Natur­land­schaft mit der Absur­dität und zugleich Lapi­darität eines wie auf den Felsen­strand abgelegten metallis­chen Läufers. Die Skulptur wird zu einem Symbol für die Über­lagerung alles Land­schaftlichen durch deren tech­nische Simu­la­tionen sowie touris­tische Über­schrei­bungen. Steiniger Küsten­saum, tech­noide dem Boden­niveau folgende Stahlkon­struktion und Erhaben­heit des Natur­panoramas über­lagern sich. Der Künstler wagt es, ein Gegen­bild des Ortsspez­i­fischen ausgerechnet an einem Ort zu schaffen, der an land­schaftlicher Markanz kaum zu über­bieten ist und damit die vorge­bliche natür­liche wie kulturelle Iden­tität des Ortes zu negieren, um diesen zum Nicht-Ort zu erklären. Im Sinne von Marc Augé werden die von ihm bespielten Orte zu Palimpsesten, bei denen das verwor­rene Spiel von Iden­tität und Rela­tion ständig aufs Neue seine Spiegelungen findet. (17) Thorsten Gold­berg negiert das Spez­i­fische seiner Orte und behan­delt sie in provozierender Weise wie austauschbare, kontin­gente und universell angeglichene Nicht-Orte, deren Funk­tion wie beispiel­sweise bei den inter­na­tional austauschbaren Shop­ping-Malls oder Flughäfen darin besteht, dass sie uns als Vehikel in eine andere Welt jenseits der tatsäch­lichen Ortshaftigkeit dienen.

Folgt man der Sichtweise des in Indien geborenen Liter­atur- und Kunst­wissenschaftlers Homi K. Bhabha ist kulturelle Iden­tität angesichts der radikalen Verän­derungen der Gesellschaft zu einer Migra­tions-, Infor­ma­tions- und Medi­enge­sellschaft grund­sät­zlich nicht mehr an einen Ort gebunden, der als geschlossen, einheitlich und homogen verstanden werden darf, der dementsprechend auch nicht geeignet wäre, einen klaren Rahmen für deren ortspez­i­fische künst­lerische Inter­pre­tation vorzugeben. Der Ort, an dem etwas sein Wesen beginnt, ist nach Bhabha die Grenze. (18) „In diesem Sinne wird die Grenze zu dem Ort, von woher etwas sein Wesen beginnt; dies geschieht in einer Bewe­gung, die dem unsteten, ambiva­lenten Charakter der Verbindung mit dem jenseits Liegenden ähnelt.“ (19) Unter diesen Bedin­gungen wäre auch die auf dem Konzept fest umris­sener Iden­tität des Ortes beruhende Kate­gorie der Site-Speci­fity als zeit­genös­sische künst­lerische Methode infrage zu stellen.

Gold­bergs Arbeit trägt dieser Verän­derung im Umgang mit dem Verständnis öffentlicher Räume Rech­nung. Sein Konzept von Orts­be­zo­genheit versucht nicht den Ort als eine in sich geschlossene unver­wech­selbare Einheit zu markieren oder festzuschreiben. Auch sein Werk in Bergen bezieht seine Radikalität nicht aus der pointierenden Inter­pre­tation ihres Ortes, sondern aus der Rela­tivierung seiner zu erwartenden Einzi­gar­tigkeit sowie der Bewusst­machung der Über­lagerung jenes Ortes durch Schichten unter­schiedlicher Betra­chtung. Das „spiegelnde Tuch“ ist letztlich nur aus der Luft in seiner markanten Form erkennbar, wird also von Passanten als eine unüber­sichtliche, schwer ortbare und entsprechend der Tidestände sich in seiner Ausdehnung perma­nent verän­dernde, ins Wasser überge­hende Fläche wahrgenommen. In ihm spiegeln sich die umliegende Berg­welt, Lichter, der klare Himmel oder die Wolken derart, dass sein Spiegel­bild kaum vom Umfeld zu unter­scheiden ist. Bestim­mend für seine Wahrnehmung ist die Verwis­chung der Grenzen zwis­chen Natur- und Kunstraum, zwis­chen Wasser­fläche und poliertem Metall­paneel, zwis­chen Ortser­fahrung und Satel­lite­nauf­nahme. Sie ist ganz im Sinne von Bhabha ein kaum abgrenzbarer Ort des kulturellen Über­gangs, der Differenz und der imag­inären Zwischenräume.

So sehr Gold­berg den Entzug ortspez­i­fizierender Längen­grade bei 54°4 min. oder Dograce + Steep Holm zum struk­turellen Merkmal seiner Arbeit erklärt, so konkret benennt er diese in einer anderen Werk­gruppe, die sich mit dem historischen Pendant des Paradieses, mit dem Schlaraf­fenland, beschäftigt. Gleich für drei wichtige Werke, Milch & Honig, Nächste Fahrt – Milch & Honig sowie Flüsse aus Wein + Bier, erklärt er die genaue kartografische Erfas­sung des Schlaraf­fen­landes durch die um 1716 geze­ichnete Land­karte „Accu­rata Utopia Tabula“ des Kartografen Johann Baptist Homann zur Grundlage.

Wo aber liegt nun dieses Schlaraf­fenland? Es wird historisch parallel zum Paradies als ein Traum­land ange­sehen, das man auch als „Cocagne“ beze­ichnete. (20) Bereits ein irischer Schlaraf­fen­land-Text aus dem frühen 14. Jahrhun­dert beginnt mit der Fest­stellung: „Weit im Meer, west­lich von Spanien, liegt ein Land, genannt Cock­anien.“ (21) Marco Polo beschreibt seine entdeckten Länder eben­falls mit Visionen, die den Schlaraf­fen­land-Fantasien entsprachen: z. B. würden dort Stämme leben, die Ehebruch und öffentlich gelebte Promiskuität mit willigen Frauen betreiben. Solche Reise­berichte vermit­teln den Lesern ein Bild von einem des Konkreten enthobenen ulti­ma­tiven Erfül­lungsort aller denkbaren Sehn­süchte. (22) Hierin unter­scheidet sich das Schlaraf­fenland vom Paradies, welches zwar über Jahrhun­derte als leider unent­deckt, doch zugleich als feste geografische Größe galt. Das Paradies wurde im Osten lokalisiert und wartete, noch im späten Mitte­lalter von niemandem angezweifelt, auf seine Entdeckung irgendwo jenseits des Meeres. (23) Die Route zu seiner Entdeckung führte, so nahm man an, einem bestimmten Breit­engrad folgend, über das Meer um den Globus herum in den Westen. Zu dessen Veror­tung fehlte jedoch der nur mith­ilfe akku­rater Zeitmes­sung zu ermit­telnde Längen­grad. Als schließlich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun­derts die für die genauere Seenav­i­gation entsprechende Uhrw­erk­stechnik bere­it­stand, war längst ein Zeitalter ange­brochen, in dem aufk­lärerische Ratio­nalität und weit­ge­hende Vervoll­ständigung der Erder­fassung den Glauben an den Real­itäts­gehalt des Paradieses unter­laufen hatten. Wurde das Schlaraf­fenland im Gegen­satz zum Paradies sehr wohl in mehreren fantasievollen Karten und Beschrei­bungen spätestens seit dem Mitte­lalter genau verze­ichnet, so wurde doch gleichzeitig dessen prinzip­iell fiktiver Charakter niemals bezweifelt: Das Schlaraf­fenland war immer ein mit Freude ausge­malter Ort im Nirgendwo der Fantasie, während das Paradies seiner realen Entdeckung harrte.

Thorsten Gold­berg macht die sich über Jahrhun­derte ziehende Geschichte der Defi­n­ition und Entdeckung des Paradieses, wie dessen karika­tureske Steigerung als Schlaraf­fenland zu Grund­lagen seiner künst­lerischen Reflek­tionen und kommen­tiert nicht zuletzt unseren Umgang mit Sehn­suchtsvorstel­lungen. Seine Über­ar­beitung der von ihm erwor­benen Karte zeigt er in einem großen Leuchtkasten, der auch im Außen­raum präsen­tiert wird. Dabei hat er sie mit einer sich auf die Koor­di­naten der Karte beziehenden Legende versehen, die sämtliche der fast 2000 Orte, Flüsse, Berge u. ä. erfasst. Wie in einem heutigen Atlanten kann man nun anhand der Legende die außergewöhn­lichsten Orte finden: Faul­bett, Sauvol, Prosit, ZumVol­lenfaß, Geil­bach, Schlam­p­en­Morast, Sünden­meid, Liebe­Berg, Ursprungde­sEwigen­Lebens etc. Es sind die Koor­di­naten einer verkehrten Welt, die sich in diesen Ortsnamen wider­spiegeln und die Gold­berg aus der Welt abstrakten Wunschdenkens in eine zuor­denbare Real­ität über­führt: Lohn für Nicht­stun und Schlaf sowie Faulenzen als Infragestel­lung des Prinzips Arbeit und Fleiß; Völlerei als Gegen­bild zur Unregelmäßigkeit der Ernährungslage; der Wunsch nach ewiger Jugend und ewigem Leben; sexuelle Freizügigkeit als Demon­stration unschuldigen Umgangs der Geschlechter. In den historischen Namenserfind­ungen spiegeln sich Kompen­sa­tionen damals zeit­genös­sischer Ängste und gesellschaftlicher Missstände. Sie haben bei Gold­berg eine kate­gorisierende Veror­tung erfahren und eignen sich damit zum poten­ziellen Reiseziel. Sie werden mit buch­baren, über Navi­ga­tion­ssysteme ansteuer­baren All-inclu­sive-Well­ness-Zielen der heutigen Touris­musin­dustrie, die aus mitte­lal­ter­licher Sicht geradezu die Erfül­lung des Schlaraf­fen­landes verkör­pern müssten, vergle­ichbar. Ihr Infor­ma­tion­sentzug liegt weniger in der fehlenden Angabe des Längen­grades als in der klis­chee­haften Veror­tung sehn­suchts­geleiteter Wunschvorstellungen.

Die Karte hat Gold­berg zuerst 2003 als großen Leuchtkasten am Pariser Platz unter den Linden, im direkten Umfeld der Ambas­sade de France sowie KPM, Bugatti und dem Berliner Luxus Hotel Adlon aufstellen lassen. In Heiden­heim instal­lierte er 2004 eine mit einem elek­tro­n­ischen Display ausges­tatte Haltestelle Nächste Fahrt – Milch & Honig. Sie kündigte damit die der barocken Schlaraf­fen­land­karte entnommenen Reiseziele an. Die mit den schillernden Ortsnamen verbun­denen Versprechungen bringt er erneut 2006 in der Wies­badener NeonIn­stal­lation Flüsse aus Wein + Bier sowie 2012 in einer Aktu­al­isierung in der Gerisch-Stiftung in Neumün­ster zum Leuchten: „Flüsse aus Wein + Bier + Straßen aus Ingwer + Muskat. Auch ist dort weder Krüppel, noch Blinder noch Schielauge noch Stummer, noch Krätze- oder Pick­elleider noch Miss­geburt + jeder ist vollkommen schön an allen Gliedern + Und die Kraft der Männer, mit Lust bei ihren Weibern zu liegen, lässt niemals nach +.“ (24) Diese fantastis­chen, im 15. Jahrhun­dert formulierten Verheißungen des Schlaraf­fen­landes geraten durch seine Instal­la­tionen in eine eigen­tüm­liche Konkur­renz zu den kommerziellen Leuchtreklamen des 20. und 21. Jahrhun­derts. Gleichzeitig erhalten die ursprünglich jeglicher Konkretisierung enthobenen Wunschbilder einer bewusst verkehrten, fabu­lierenden und letztlich ortlosen Welt des Schlaraf­fen­landes ihre auf Real­isierung setzenden Koor­di­naten als Bauschild auf einem Bahn­hofsvorgelände oder als werbe­trächtiges Idyllever­sprechen in einem Skulp­turenpark. Die Sehn­süchte scheinen während der letzten 500 Jahre unverän­dert, deren anderer auf Verfüg­barkeit und Käuflichkeit angelegter Umgang wird von Gold­berg zum Thema erklärt.

Die gleiche geradezu absurde Zurschaustel­lung jener Para­doxie – eigentlich abstrakte, fantastische und sehn­suchts­geleitete Vorstel­lungen an konkrete Orte zu binden, die zwar in einem inhaltlichen Zusam­menhang zu den gezeigten Objekten stehen, jedoch keine dem Ort abgerun­gene Zwangsläu­figkeit aufweisen – ist auch für Gold­bergs Wolken-Skulp­turen charak­ter­is­tisch. Es handelt sich hierbei um eine Serie von stil­isierten Wolken­nach­bil­dungen, die er jeweils anstelle der geografis­chen Koor­di­naten mit deren Entste­hungs­datum beze­ichnet. Cumulus 08.07 ist ein auf der Spitze einer Traverse über dem Flüss­chen Lippe in Lipp­stadt schwebendes Neonob­jekt. Jeweils eine weitere stil­isierte Haufen­wolke aus Kunst­stoff schwebt über dem Gartenhof des Berliner Bundesmin­is­teriums für Ernährung, Land­wirtschaft und Verbrauch­er­schutz und als Cumulus 11.08 inmitten des Gerisch-Skulp­turen­parks über dem Privathaus des Stifter­paares Herbert und Brigitte Gerisch in Neumün­ster. Getragen werden sie von hoch aufra­genden und weit auskra­genden Metall­winkeln aus poliertem Edel­stahl. Ausgerechnet eine Wolke – Inbe­griff für Imma­te­ri­alität, Flüchtigkeit und ständige Verän­derung – hat der Künstler in comi­car­tiger Schema­tisierung in glänzenden Kunst­stoff gießen lassen, um sie mit viel statis­chem Aufwand in luftiger Höhe auf einem glitzernden und beweglichen Stahlträger, dem Wolken­bügel, zum Schweben zu bringen. Kaum ein Objekt, das sich der skulp­turalen Verfes­tigung stärker wider­setzen würde als eine Wolke. Und nun setzt Gold­berg dieser flüchtigen Verdich­tung schwebender Wassertröpfchen, dieser roman­tisch beset­zten Projek­tions­fläche menschlicher Sehn­süchte ein Denkmal? Ihre künst­lerische Span­nung bezieht sie erneut aus genau diesem Wider­spruch: einer­seits als nüchterne, auf den Ort abges­timmte Mate­ri­al­isierung kaum konkretisier­barer Flüchtigkeit einer Wolke, wie ein Zitat der Pop-Art, subversiv komisch, ander­er­seits als ortsun­ab­hängiges Zeichen sehn­suchts­be­setzten Fern­wehs ein Bedeu­tungsträger roman­tischer Tran­szendenz. Das für die Kunst im öffentlichen Raum über Jahrzehnte unum­stößliche Prinzip der Orts­be­zo­genheit wird hier in eine utopische, den Ort tran­szendierende Dimen­sion über­führt. Den Ort der Instal­lation reduziert der Künstler lediglich auf seine Funk­tion als Stan­dort, von dem aus die Gedanken in die Ferne schweifen, dem Ort entfliehen können. Dass die Wolke in Neumün­ster zudem nicht nur aus dem muse­alen Park heraus wahrnehmbar, sondern auch für die Straßen­pas­santen über die Grund­stücks­mauer hinweg sichtbar ist, betont einmal mehr den gren­züber­schre­i­t­enden Anspruch der Arbeit Thorsten Gold­bergs, sich nicht auf die Dichotomisierung von Ort und Nich­tOrt, privat und öffentlich, Kunst und Politik, Dies­seits und Jenseits einschränken zu lassen.

Jeder Park“, so formuliert es die franzö­sische Künst­lerin Dominique Gonzalez-Foer­ster in einem Kommentar zu ihrer eben­falls in einem Park befind­lichen Arbeit auf der docu­menta 11 „Park – A Plan for Escape“, „sei es der Rosen­garten in Chandi­garh, der Pariser Park in Rio de Janeiro, der Parc de la Villette in Paris, der chine­sische Garten in Zürich, der japanische Garten in São Paulo, spielt mit dieser Möglichkeit der Flucht – der Stadt durch eine organ­ische Umwelt, aber auch durch andere kulturelle Bezüge zu entfliehen.“ (25) Dafür setzte Gonzalez-Foer­ster hetero­gene Versatzstücke aus aller Welt als gedankliche Fluchtorte in den Park der Kasseler Auewiesen. Es sind Gegen­stände, die Reiseerin­nerungen an „die zurück­gelegte Seer­oute der Gegen­stände aus Veracruz, Rio de Janeiro und Bombay, eine langsame Über­querung der Meere durch mehrere Klima­zonen hindurch …“ (26) in sich tragen. Und wenn die Künst­lerin in ihrem State­ment schließlich den Park als Raum inter­pretiert, der sich „bruch­stückhaft“ entfaltet, als ambiva­lenten „Spielplatz“, als „Über­gang von einem Raum zum anderen“, als „Beginn einer Verwand­lung unseres Verständ­nisses von Situ­ation“ (27), dann klingt dies wie eine konkrete Umset­zung des von Bhabha skizzierten Konzepts eines diskon­tinuier­lichen und gebroch­enen „dritten Raums“. Ebenso wie Thorsten Gold­berg kontert Gonza­lez­Fo­erster das Spez­i­fische des realen Ortes mit der Hybrid­ität und Brüchigkeit eines glob­alen Puzzles, die Parkre­alität des Außen­raums mit einer imag­inären und projek­tiven Bildhaftigkeit.Kunst bildet, so verstanden, Ausgangspunkt und Erkun­dungsraum unserer Paradies-Vorstel­lungen, in denen sich zugleich Öffentlichkeit besser spiegelt als in jeder pointierenden Markierung des Straßen­raums. Öffentlichkeit wird dabei jedoch neu definiert: als perma­nente Projek­tion, in ständiger Bewe­gung, ortlos, unwirk­lich, utopisch.

Kann man Stille sehen?“ fragt Thorsten Gold­berg auf seiner Website zu einem beson­deren Projekt, Die Pots­damer, (28) dessen Real­isierung seit 2005 längst voll­zogen worden wäre, hätte die Berliner Senatsver­waltung nicht am 7. Februar 2005 nachträglich und entgegen der Jurierung des von ihr einge­setzten Preis­gerichtes entsch­ieden, „keine Förder­mittel für die Real­isierung des Kunsto­b­jekts zur Verfü­gung zu stellen“ (29). Obwohl Gold­berg den Wettbe­werb gewonnen hatte und damit für die Umset­zung beauf­tragt war, wurde diese unter anderem mit der Begrün­dung unter­sagt, der Öffentlichkeit sei nicht zu vermit­teln, für ein Kunst­projekt so viel Geld auszugeben. Der promi­nent ausgeschriebene Real­isierungswet­tbewerb konnte aufgrund poli­tischer Vorbe­halte nicht real­isiert werden. Dabei mutet Die Pots­damer zunächst völlig harmlos an. Der Künstler will für einen 45-minüten Dreh an einem früh­som­mer­lichen Sonntag­morgen die aus früheren Zeiten klangvolle Berliner Magis­trale sperren und von jeglichen temporären Zutaten befreien: keine Autos, keine Werbeschilder, keine Menschen – die Pots­damer Straße all ihres geschäftigen Lebens beraubt und pur auf ihre Substanz reduziert. Durch diese unwirk­lich menschen­leere Szenerie schre­itet ein durch­trainiertes elegantes Rennpferd mit einem weib­lichen Jockey – eine zier­liche, arti­fizielle Reit­erin als Gegen­zitat zur Tradi­tion hero­ischer Reiter-Stand­bilder. Der Reit­erin folgt eine Kamera, die zugleich mit dem Ritt auch die unwirk­lich stille und geräumte Straße filmisch doku­men­tiert. Der Künstler plante diesen Film auf einer eigens instal­lierten groß­for­matigen LEDMon­i­torwand direkt über der Pots­damer Straße im ständigen Loop zu zeigen. Der Film würde wirken, als sei er nachträglich per elek­tro­n­ischer Bild­bear­beitung bere­inigt worden. Dabei hätte er den Beweis dafür antreten können, dass dieser dem Alltag enthobene „traumhafte Zustand“ (30) tatsäch­lich einmal Wirk­lichkeit gewesen ist.

Erneut entzieht der Künstler mit dieser Arbeit dem von ihm bespielten Ort wesentliche Koor­di­naten für dessen Bestim­mung. Machen nicht die Menschen, die Geschäfte, der Verkehr, das Leben die eigentliche Essenz der Pots­damer Straße aus? Unter­läuft Gold­berg mit der künstlichen und höchst aufwendigen Räumung zugun­sten eines aus seiner Perspek­tive fiktiven Idealzu­s­tands nicht die spez­i­fische Charak­ter­istik der Straße? Traumhaftes Gegen­bild und Charak­ter­istik des Ortes aber bedingen einander. Das fiktive Bild des Paradieses kann mehr über den Ort seiner Entste­hung aussagen, als dessen künst­lerische Sezierung – so die Quin­tessenz des Ansatzes Thorsten Goldbergs.

Bei Die Pots­damer wird der Betra­chter erneut zu einem verheißungsvollen Weg in eine paradiesische Welt verführt. Ist dieser hier auch von der dem Straßen­verlauf folgenden Reit­erin vorgegeben, so ist er struk­turell vergle­ichbar mit der Linie entlang des Breit­en­grades zu fernen Inseln, der vom Wind getriebenen Wolke oder den historischen Fantasien von Cocagne, wie sie sich in den Schlaraf­fen­lan­dar­beiten zeigen. Immer wird der Ort der künst­lerischen Arbeit zum bloßen Anlass­geber für dessen gedankliches, roman­tisch gestimmtes Verlassen eingedampft. Er wird über­schrieben von allge­meinen, vom Ort höch­stens angeregten Sehn­suchtsvorstel­lungen: Im Falle der anson­sten durch alltägliche Betrieb­samkeit gekennze­ich­neten Pots­damer Straße ist es die Vision der Stille, des Heraus­tretens aus der Zeit, die für einen Moment wie einge­froren wirkt. Doch scheint es, dass gerade in der Nega­tion des Ortes die beson­dere Sprengkraft der künst­lerischen Arbeit Gold­bergs liegt. Warum sonst müsste sich der Berliner Senat sorgen, der Öffentlichkeit sei nicht zu vermit­teln, für ein solches Kunst­projekt Geld auszugeben? Ist dahinter die Angst zu vermuten, dass die vielbeschworenen Spez­ifika solcher Orte – das Berliner Flair? – als Ergebnis global austauschbarer Über­schrei­bungen für deren Wahrnehmung nicht mehr zuvorderst bestim­mend sind? Dass sich damit das Poten­zial von Öffentlichkeit in einen anderen Kommu­nika­tion­sraum verlagert hat und städtische Real­ität zur Folie universeller Marketing- und Stadt­pla­nungsstrategien geworden ist? Oder ist es schlicht das von Thorsten Gold­berg angewen­dete Prinzip des Wegnehmens anstelle eines Hinzufü­gens, das den künst­lerischen Prozess für gewöhn­lich ausmacht und somit zur poli­tischen Ablehnung der Wettbe­werb­sre­al­isierung führte? Ist aber das alte Konzept der Ortsspez­i­fität, des plas­tisch formulierten Gegenübers von Kunst und stre­it­barer Öffentlichkeit, auf einen solchen als kontin­gent zu definierenden und im ständigen Fluss befind­lichen Raum über­haupt noch anzuwenden? Thorsten Gold­berg definiert Orte heutiger Öffentlichkeit neu, als Nicht-Orte, in ständig neu über­schriebener Bewe­gung, sichtbar zu machen eher durch den Entzug der sie nur scheinbar deter­minierenden Koor­di­naten als durch die Bestim­mung ihrer Iden­tität – mit Koor­di­naten des Utopischen.

 

(1) Vgl. Dava Sobel und William J. H. Andrewes: Längen­grad, Berlin 2010 (New York 1995).

(2) Vgl. Hermann Pleij: Der Traum vom Schlaraf­fenland. Mitte­lal­ter­liche Phan­tasien vom vollkommenen Leben, Frank­furt am Main 2000 (1997), S. 309 f.

(3) Vgl. ebd., S. 310 f.

(4) Vgl. Hermann Pleij: Der Traum vom Schlaraf­fenland. Mitte­lal­ter­liche Phan­tasien vom vollkommenen Leben, Frank­furt am Main 2000 (1997), S. 289.

(5) Ebd., S. 24.

(6) Vgl. Daniel Kehlmann: Finger­reisen, in: du762 – Weltkarten. Eine Vermessen­heit, Zeitschrift für Kultur, Nr. 11/12 Dezember 2005/Januar 2006, S. 20.

(7) François-René de Chateaubriand: Reise von Paris nach Jerusalem, Leipzig 1811, zit. nach: Marc Augé: Nicht-Orte, S. 92.

(8) Marc Augé: Nicht-Orte, München 2010 (Paris 1992), 1992, S. 92.

(9) Ebd., S. 83.

(10) Ebd., S. 96 f.

(11) Marc Augé: Nicht-Orte, München 2010 (Paris 1992), S. 83 f.

(12) Nach­hausegehen, Zuhaus­esein, Zuhause­bleiben, 1991, zit. nach: Martin Henatsch: Thomas Bauer, in: Ausst.-Kat. Kunst im Welt­maßstab, Schleswig-Holsteinis­cher Kunstverein, Kunsthalle zu Kiel, 1993.

(13) Der Entwurf von Thorsten Gold­berg hat den 2. Preis erhalten, wurde daher nicht realisiert.

(14) Vgl. Miwon Kwon: One place after another: site specific art and loca­tional iden­tity, Cambridge/MA, London 2002.

(15) Richard Serra, zit. n.: Ausst.-Kat. Richard Serra. Running Arcs. For John Cage, Düssel­dorf 1992, S. 63.

(16) Marc Augé: Nicht-Orte, München 2010 (Paris 1992), S. 110.

(17) Ebd., S. 83 f.

(18) Vgl. Homi K. Bhabha: Die Veror­tung der Kultur, Tübingen 2000.

(19) Ebd., S. 7.

(20) Vgl. Hermann Pleij: Der Traum vom Schlaraf­fenland. Mitte­lal­ter­liche Phan­tasien vom vollkommenen Leben, Frank­furt am Main 2000 (1997), S. 315 ff.

(21) Ebd., S. 222.

(22) Vgl. ebd., S. 312.

(23) Vgl. ebd., S. 221.

(24) Leucht­stof­fröhrentext „Milch + Honig +“, aus: „Sterf­boeck“ (Ster­bebuch), 1491 – eine prak­tische Anleitung und Lebenslehre, deren Zweck darin bestand, die richtigen Verhal­tensweisen aufzuzeigen, damit die Person nach dem Tode die richtige Abteilung im Jenseits erre­ichen konnte.

(25) Dominique Gonzalez-Foer­ster im Gespräch mit Lars Köllner, in: skulptur projekte münster 07, Köln 2007, S. 57.

(26) Dominique Gonzalez-Foer­ster: Park. Ein Flucht­plan, in Ausst.-Kat. Docu­menta 11_Plattform 5: Ausstel­lung, Ostfildern-Ruit 2002, S.564.

(27) Vgl. ebd., S. 564.

(28) http://www.potsdamerstrasse.com/files/film.html, 31. 3. 2011.

(29) Petra Henninger: artnet® Magazin, http://www.artnet.de, 8. September 2005.

(30) Thorsten Gold­berg: http://www.potsdamerstrasse.com/files/film.html, 18. 3. 2012.