Ortsbestimmung im Paradies:
Koordinaten des Utopischen
Martin Henatsch
54°4 min., eine rätselhafte Betitelung und zugleich unvollständige Ortsangabe, mit der Thorsten Goldberg nicht nur seine Ausstellung und das begleitende Buch, sondern auch eine für sein Werk zentrale Arbeit überschreibt: Rätselhaft, bleibt doch zunächst die Bedeutung dieses Kürzels im Unklaren – Kombination einer Temperatur und Zeitangabe oder Nennung von geografischen Koordinaten? Unvollständig, fehlt doch als entscheidende Präzisierung des Standortes die zweite Koordinate, der Breiten- oder Längengrad. In dieser Unbestimmtheit, mit diesem Entzug entscheidender Determinanten für die Definition von thematisierten Orten, zeigt sich ein grundlegendes Prinzip der Arbeitsweise des Künstlers. Erst ein Blick auf die Landkarte offenbart, worum es dem Künstler geht. Der Ort der Ausstellung, die von dieser Publikation begleitet wird, liegt auf dem 54. Breitengrad. Goldberg spannt mit der Nennung lediglich der geografischen Breite eine fiktive Verbindungslinie von seinen Ausstellungsorten zu fernen, verheißungsvoll erscheinenden und zugleich weitgehend unbekannten Orten, zu deren vollständiger Bestimmung er jedoch die Längenangabe weglässt. Schon bei früheren Arbeiten verwendete der Künstler Positionsbestimmungen. Bei Dograce + Steep Holm wird auf den Breitengrad 51°20’23“N verwiesen, auf dem zugleich die geplante Justizvollzugsanstalt Heidering, für die Goldberg einen Entwurf entwickelt hat, wie auch die walisische Insel Steep Holm liegen. Bei Green Island Switch (as the crow flies) bildet der Ausstellungsort im polnischen Radom den Ausgangspunkt für eine gedankliche Achse gen Westen. Und schließlich 54°4 min.: Eine Routenbeschreibung, die per Anweisung eines digitalen Routenfinders direkt von der Gerisch-Stiftung in Neumünster zum Wee Geordies’s Neighbourhood Pub und weiter bis auf die Insel Lucy Island an der kanadischen Westküste führt.
Mit seinem strikten Folgen auf den Pfaden eines Breitengrades in Richtung Westen bezieht sich Thorsten Goldberg nicht nur auf das allseits beliebte Spiel, einen Globus – oder heute die digitale Erdkugel am Bildschirm – in Rotation zu versetzen und dann mit Spannung zu erwarten, auf welchen Ort der Finger bzw. Cursor weisen wird, wenn die Welt zum Stillstand kommt. Dabei zieht er auch eine historische Parallele: Hangelten sich doch die großen Seefahrer und Reisenden früherer Jahrhunderte möglichst entlang eines Breitengrades in Richtung Westen, da sich anhand des Sonnenstandes die geografische Höhe, auf der man sich parallel zum Äquator um die Erde bewegte, relativ leicht bestimmen ließ; die genaue Positionsbestimmung auf dieser Linie, also die Bestimmung des Längengrades und somit der zurückgelegten Entfernung vom Ausgangshafen, war hingegen eines der kompliziertesten Probleme der Entdeckungsgeschichte und blieb über Jahrhunderte unbekannt. Sie war schließlich nur über eine verbesserte Zeitmessung möglich und konnte erst Mitte des 18. Jahrhunderts von dem englischen Uhrmacher John Harrison (1693–1776) gelöst werden, nachdem dieser Uhrwerke entwickelt hatte, die auch über viele Wochen Seereise akkurat und ohne Verzögerung liefen.(1)
Der Zug entlang der Breitengrade war aber nicht nur dem Drang nach besserem Verständnis der Erde, sondern zugleich der Verheißung geschuldet, dabei auf ein bisher unbekanntes, jedoch als existent angenommenes paradiesisches Land zu stoßen. Schließlich galt das Paradies, aus dem einst Adam und Eva vertrieben worden waren, als fester Bestandteil der zu erforschenden Erdgeografie. Und schon – so nahm man an – die Völker in deren Nähe müssten von dem reinen natürlichen und mit der Natur harmonierendem Urzustand, den einst Adam und Eva genießen konnten, geprägt sein. Die Begegnung mit sogenannten Naturvölkern wäre somit ein Indiz für die Nähe zum gesuchten Paradies. (2) Entsprechend wurden die Wunder des Westens schon lange vor den Entdeckungsreisen, beispielsweise des Christoph Kolumbus in die Neue Welt, gepriesen. An Orten der „Neuen Welt“, wie Atlantis oder den Seligen Inseln, vermutete und erwartete man glückliche, in Eintracht mit sich und der Natur lebende Menschen, also das Paradies. Den kulturellen Rahmen für diese Traumgeografien findet man zuallererst in zahlreichen mittelalterlichen Paradies-Beschreibungen. Schon die Chronisten der frühen Neuzeit schildern diese „Neue Welt“ übereinstimmend in Termini eines paradiesischen goldenen Zeitalters. (3)
Schickt uns Thorsten Goldberg also mit seiner Reiseanleitung 54°4 min. nicht nur zu einer beliebigen Inselgruppe in British Columbia, sondern zugleich auch auf die Suche nach einem fernen Paradies? Die Lucy Islands, ebenso wie alle anderen von ihm auserkorenen breitengradabhängigen Eilande, stellen sich jedoch als unspektakuläre und unbedeutende Orte heraus, meist lediglich mit einem ihre Position bestimmenden Seezeichen versehen. Es sind Orte ohne besondere Bedeutung für den Rest der Welt, ohne herausragende Attraktionen, außer eben ihrer zufälligen Lage genau westlich des Ausgangspunktes des Künstlers. Sie erweisen sich als scheinbar willkürliche, sich als geradezu zwangsläufig herausstellende Ziele einer Fingerreise, für die uns der Künstler eine von Google Maps abgeleitete Routenbeschreibung liefert. Diese führt uns mit diversen Bildern entlang der Strecke direkt von Neumünster bis an die kanadische Westküste von British Columbia. Von Google Earth entnommene Fotos illustrieren die einzelnen Stationen der fantastischen Reise. Es sind unwirkliche Orte im Nirgendwo: Leerstellen, die offen für Projektionen und Sehnsüchte sind – auch für Vorstellungen vom Paradies.
Ähnlich Green Island (as the crow flies): Hier wählte der Künstler den Ausgangspunkt Radom für seine Fingerreise entlang eines Breitengrades. Sie ließ ihn dieses Mal an der Küste Neufundlands landen, 5.130 km westlich von Radom. Auf seiner imaginären Reise schnurgerade westwärts bot ihm ein Seezeichen das erste Stopp-gebietende rote Licht, welches er als Zeichen deutete, das Ziel seiner Reise gefunden zu haben. Als Symbol für die gleichermaßen zufällige wie mathematisch stringente Verbindung dieser fernen Küstenlandschaft mit dem polnischen Ausstellungsort entwarf er einen Nachbau des Seezeichens als Skulptur in Radom. Einerseits erscheinen diese Zielpunkte geradezu willkürlich – eine unbedeutende Felseninsel, von der es unzählige gibt, ein Stückchen Erde, das auf keiner Landkarte besonders verzeichnet ist –, andererseits sind sie innerhalb der künstlerischen Konzeption Goldbergs Ergebnis eines geradezu zwangsläufigen Vorgehens. Was sollte auch willkürlich daran sein, so fragt der Künstler, einen bestimmten Weg der Erdrotation folgend so lange zu gehen, bis man an einem Seezeichen oder in einem Pub landet. Er stellt damit die übliche Logik touristischer Reisepläne, denen immer auch etwas von der Suche nach dem Paradies anhaftet, infrage.
Warum führt uns der Künstler an solche Orte? Ist es die gleiche Suche nach verheißungsvollen Orten, die als eine der Konstanten menschlicher Kulturen Entdecker aller Zeiten zum Paradies ausziehen ließ? (4) Entdeckungsreisen waren wohl immer verbunden mit der Suche nach dem verlorenen Paradies, dem goldenen Zeitalter – wie zeit- und milieugebunden dieser Traumort auch konstruiert gewesen sein mag. Selbst die Reisen von Christoph Kolumbus galten überdies der Entdeckung des irdischen, von ihm im Osten angenommenen Paradieses über den westlichen Seeweg. Schließlich identifizierte er auf seiner dritten Fahrt (1498–1500) den Orinoko-Fluss als einen der vier Paradiesströme und erkannte während eines Aufenthaltes auf Haiti – bestes Beispiel für die Überschreibung der Orte mit Fantasien der in diesem Fall nach langer Fahrt ausgehungerten Seeleute –, dass die Erde nicht so sehr rund als vielmehr birnenförmig sei … „wie eine Frauenbrust“. (5)
Die sehnsuchtsbesetzte Ferne, die selbst der virtuell Reisende Thorsten Goldberg in der Realität wahrscheinlich niemals betreten wird, kann letztlich fantastischer sein als alles, was man als real Reisender vor Ort erleben könnte. Zugleich spiegelt sich in der heute durch digitale Routenfindung perfektionierten gedanklichen Reisetätigkeit ein melancholisches Wohlgefallen daran, dass es jene Ferne gibt, die wir, ähnlich wie Karl May den Wilden Westen, vom heimischen Schreibtisch aus entdecken und uns dabei im Altvertrauten wunderbar geborgen fühlen können (6) – einerseits: Andererseits führt ein heute zunehmend standardisiertes, konsumentenorientiertes und marketinggeleitetes Fernweh auch zu einer kontingenten Austauschbarkeit der Reiseziele, die mehr und mehr durch die Stereotypen strahlender Urlaubslandschaften als durch deren Realitätsgehalt geprägt sind. Indem wir ferne Paradiese über die virtuelle Karte, den Reisekatalog oder via Traumschiff-Romanze aufsuchen, berauben wir sie paradoxerweise eines Teils ihrer Authentizität. Ihre Ubiquität verwandelt sie in austauschbare Bausteine allgemein gültiger und kulturell einförmig geprägter Sehnsuchtsvorstellungen.
Was aber macht einen beliebigen Punkt auf der Landkarte zum bemerkenswerten und in die allgemeine Landkarte öffentlichen Bewusstseins einzuschreibenden Ort? Welche Gründe gibt es dafür, dass wir bestimmte Plätze als bedeutende Orte ansehen, andere hingegen keinerlei Aufmerksamkeit erfahren? Und was geschieht mit einem Ort, wenn er plötzlich aus der Ferne, z. B. durch die künstlerische Arbeit Goldbergs, ungeahnte Aufmerksamkeit erfährt? Der französische Vielreisende, Diplomat und Literat François-René de Chateaubriand (1768–1848) beschreibt in seiner „Reise von Paris nach Jerusalem“ sehr anschaulich, wie sich der Charakter der besichtigten Attraktionen auf der Attika verändert: je weiter er sich von ihnen entfernt „desto schöner leuchteten die Säulen von Sunium über den Fluten“ (7). Der französische Ethnologe und Anthropologe Marc Augé sieht in der Entfernung vom Ort gar den idealen Standpunkt für dessen Definition: „Diese Aufhebung des Ortes ist der Höhepunkt der Reise“. (8) Augé untersucht in seiner Abhandlung „Nicht-Orte“ sehr eingehend die Mechanismen, die einen Punkt oder einen Raum auf unserer Erde zu einem „Ort“ werden lassen und unterscheidet diese von „Nicht-Orten“. Während für ihn der Ort sowohl anthropologisch als auch sozial determiniert, also historisch aufgeladen und für die Menschen mit konkreten Ereignissen verbunden ist, so kennzeichnet den „Nicht-Ort“ seine Überschreibung mit möglicherweise ortsunabhängigen Erzählungen, Projektionen und Sehnsüchten. „So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt, einen Nicht-Ort. … Räume, die selbst keine anthropologischen Orte sind.“ (9) Nicht-Orte sind demnach prinzipiell austauschbar und beziehen ihren Charakter aus der projektiven Erwartungshaltung des Erzählers, Betrachters oder Entdeckers. „Die Vermittlung, die das Band zwischen den Individuen und ihrer Umgebung im Raum des Nicht-Ortes herstellt, erfolgt über Worte und Texte. (…) Manche Orte existieren nur durch die Worte, die sie bezeichnen, und sind in diesem Sinne NichtOrte oder vielmehr imaginäre Orte, banale Utopien, Klischees.“ (10)
In diesem Sinne wären jene fernen Punkte, die Thorsten Goldberg aufgrund provozierter Zufälligkeit im Rahmen seines Konzeptes für seine künstlerische Arbeit auserkoren hat, zunächst als Orte zu definieren. Der Pub kurz vor der Pazifikküste von British Columbia, die winzige Insel mit Leuchtturm in der Poyll Vaaish Bay, ein ca. 1 m² großer karger Felsen vor der Küste von Labrador oder das einsame Seezeichen auf den Lucy Islands – all dies Stationen der virtuellen Reisen des Künstlers – konstituieren ein Stückchen Erde zumindest für die in der Nähe wohnenden Menschen, die möglicherweise konkrete Erlebnisse mit diesen Punkten verbinden, als Ort. Welche Bedeutung aber hat dieser lokal definierte Ort für die künstlerische Weltöffentlichkeit? Diese folgt lediglich der von Goldberg angeleiteten sehnsuchtserfüllten Suche nach dem besonderen Ort auf der anderen Seite der Erde. Er wird damit zur Projektionsfläche künstlerischer, aber auch ganz persönlicher Sehnsüchte und Erwartungen, die zunächst wenig oder gar nichts mit diesem zu tun haben. Thorsten Goldberg destruiert dessen Ortshaftigkeit und erklärt ihn entsprechend der Vermarktungsmechanismen der Tourismusindustrie zu einem letztlich austauschbaren NichtOrt. Es geht ihm um jenes sich ständig verändernde Wechselverhältnis zwischen dem von persönlichen Erlebnissen, authentischer Charakteristik und sozialer Geschichte geprägten Ort und deren Überformung durch eine seit dem 20. Jahrhundert durch Massentourismus und zunehmender virtueller Darstellung oder gar Simulationen gekennzeichnete Besetzung. Das sich immer wieder neu ergebende und ständiger Neuüberschreibung ausgesetzte Wechselspiel von Ortshaftigkeit und deren Überformung zum – eventuell paradiesischen – Nicht-Ort ist Thema seiner künstlerischen Untersuchung. Der „Ort verschwindet niemals vollständig, und der Nicht-Ort stellt sich niemals vollständig her – es sind Palimpseste, auf denen das verworrene Spiel von Identität und Relation ständig aufs Neue seine Spiegelung findet.“ (11) Es sind Koordinaten des Utopischen, mit denen Goldberg die grundsätzlich projektive und damit austauschbare, also ortlose Überschreibung jedes Ortes zum Ausgangspunkt seiner künstlerischen Arbeit erklärt.
In welchem Verhältnis steht unsere heutige Google Earth-geleitete Entdeckerfreude zu den Sehnsüchten nach den Paradiesen früherer Jahrhunderte? Dies ist eine weitere Frage, die Goldberg nicht nur mit 54°4 min. stellt: Immer wieder führt er uns in der allgemeinen Wahrnehmung nicht weiter definierte Orte vor, die er durch künstlerische Aufladung zu Stellvertretern von Sehnsüchten nach der Identität von Orten erklärt. Schon in einer seiner frühesten Arbeiten für den öffentlichen Raum publiziert er die Postkarte einer befreundeten Stewardess: Nachhausegehen Zuhausesein Zuhausebleiben (1991). Auf zehn großformatigen Werbetafeln plakatierte er in der Stuttgarter Innenstadt vergrößerte Postkarten, die ihm von der vielfliegenden Freundin aus exotischen Ländern zugeschickt worden waren. Ursprünglich mit fernen Zielen verknüpfte Träume entpuppen sich dabei als ortsunabhängige und austauschbare Sehnsüchte. Sie erweisen sich mehr als Spiegelungen der subjektiven Bedürfnisse der Reisenden denn als Beschreibung der genannten Orte: „bin mal wieder auf Kurztrip in Rio. Weihnachten war recht öde (everything closed in New York!!) Sylvester dafür eine Schweißtreibende Latinotanznacht bis zum Umfallen.“ (12)
Auch in seinem Entwurf Dograce + Steep Holm (13) für die neu zu bauende Justizvollzugsanstalt Heidering im Land Brandenburg hat Goldberg 2010 zwei höchst unterschiedliche Orte in einen imaginären Zusammenhang gebracht: Vor der Eröffnung der Vollzugsanstalt, auf die sich der künstlerische Wettbewerb bezog, sollte das Gelände entlang seines 1,3 km langen Doppelzaunes Schauplatz für ein Windhundrennen werden. Dieses plante er mit Hochgeschwindigkeitskameras so festzuhalten, dass die eigentlich etwa 90 Sekunden in extremer Verlangsamung in einer bis zu 100 Stunden währenden Großprojektion innerhalb der Vollzugsanstalt gezeigt werden könnte. Eine der zwei permanent geplanten Filmprojektionen sollte die hinter einem künstlichen Hasen her hetzenden Windhunde dokumentieren. Deren kreisförmiger Lauf entspräche der in die Vertikale gedrehten Projektion eines Flugzeuges, das die auf demselben Breitengrad liegende Insel Steep Holm umfliegt. Dem künstlichen Hasen entsprechend, der den Hetztrieb der Windhunde anheizt, würde das Flugzeug ein himmelblaues Transparent zur Animation des menschlichen Jagdtriebs durch die Luft ziehen. Der Künstler bringt somit zwei sich wiederholende Kreisläufe voller Verheißungen in eine formale, geografische wie auch inhaltliche Verbindung. Es sind zwei nicht erfüllbare Glücksversprechen, Chimären tierischer wie menschlicher Sehnsüchte. So wenig die Rennhunde das flatternde Objekt ihrer Begierde jemals erreichen werden, so unrealistisch ist es, dass das blaue Stückchen Himmel hinter dem Flugzeug die Sehnsucht seiner Betrachter wird stillen können; dies umso weniger, wenn man in einer Vollzugsanstalt einsitzt und der ferne Himmel zwangsläufig von Gefängnismauern abgeschottete Projektionsfläche bleiben muss. Obgleich diese auf den Präsentationsort inhaltlich abgestimmte Arbeit für die ihrer Bewegungsfreiheit beraubten Insassen nicht ohne bitteren Beigeschmack ist, offenbart sie doch, auch unabhängig von der Freiheitseinschränkung der Inhaftierten, ihren allgemeingültigen Symbolgehalt für den als anthropologische Konstante anzunehmenden Zug des Menschen in eine als positiv definierte Ferne. Diese Sehnsucht aber definiert Goldberg hier unter den Bedingungen der eingeschränkten Bewegungsfreiheit des Betrachters bzw. des zwanghaften Nachhetzens hinter dem Köder. Der Entzug wesentlicher, den Raum unter normalen Bedingungen bestimmender Faktoren, wird erneut zum Ausgangspunkt der Arbeit erklärt.
Über Jahrzehnte kreiste die Diskussion um Kunst im öffentlichen Raum um das Paradigma der Ortsspezifität. Als Antwort auf die vor allem in der Nachkriegszeit praktizierte Aufstellung von Drop-Sculptures – also beliebig und weitgehend unabhängig vom Umfeld abgestellte, zumeist ungegenständliche Plastiken, deren Autonomiecharakter gerade auf ihrer vorgeblichen Kontextlosigkeit beruhte – entdeckten für die weitere Entwicklung der Kunst im öffentlichen Raum prägende Künstler wie z. B. Richard Serra die Site-Specifity. (14) Bereits Ende der 1960er Jahre verließ Serra den bis dahin von der Moderne gesetzten fundamentalen Rahmen der Selbstreferenz, hebt er doch das moderne Konzept des mobilen Kunstwerks, der flexibel zu arrangierenden Positionierung von Plastiken zugunsten einer ortspezifischen Positionierung auf: „Standortspezifische Werke stehen nicht isoliert, sondern in Abhängigkeit zu den sie umgebenden Bedingungen. Ihr Ausmaß, ihre Größe und Platzierung sind durch die Topografie der Umgebung determiniert, sei diese nun städtischer oder landschaftlicher Natur. Die Werke werden zu einem Bestandteil ihres Ortes…“ (15) Dazu analysierte Serra mit seinen monumentalen Stahlskulpturen die spezifischen Komponenten ihrer Umgebung. Sein wegweisender Ansatz von Site-Specifity bestand in der künstlerischen Sichtbarmachung der urbanen, historischen und ästhetischen Strukturen der Orte, für die er seine Skulpturen schuf.
Auch Thorsten Goldberg gilt dieses Vermächtnis als wichtige Regel, wenn er mit der stilistischen Vielfalt seiner zahlreichen Arbeiten im öffentlichen Raum die jeweiligen Erfordernisse seiner Orte vor das Prinzip künstlerischer Wiedererkennbarkeit, also einer Handschrift, stellt. Diese Konzepte geraten jedoch spätestens in den 1990er Jahren in eine Sackgasse. Das klassische, die Entwicklung der Kunst im öffentlichen Raum befeuernde Gegenüber von bürgerlicher Kritik und Obrigkeit scheint sich in dem Maße aufzulösen, wie die abgrenzbare Identität von Öffentlichkeit bestimmenden Orten infrage gestellt wird. Entsprechend unterläuft Goldberg trotz ortsbezogener Recherche für all seine Projekte die Spezifika dieser Orte und deren Kontextualität.
Seine Arbeiten dienen weniger der Markierung oder Identifizierung eines Ortes; sie sind keine Landmarken, die beispielsweise die Route der Industriekultur im Ruhrgebiet orientierungsstiftend als weithin sichtbare topografische Wahrzeichen kennzeichnen. Im Gegensatz führen Goldbergs Projekte, indem er imaginäre Verbindungslinien von seinen Orten zu zufällig gefundenen, weit entfernten, nahezu unbekannten und kaum erreichbaren Zielen zieht, zu einer Aufhebung der Identität der von ihm bespielten Orte, erklärt er sie doch primär zu Ausgangsorten für die gedanklichen Reisen zu fernen Zielen. Dabei löst er nicht nur die konkrete Ortshaftigkeit seiner Ziele ins Unbestimmte und Austauschbare auf, sondern zugleich die der Standorte seiner Arbeiten und Ausstellungen. Er rückt damit jene Nicht-Ortshaftigkeit ins Zentrum seiner künstlerischen Untersuchung, die Marc Augé im Gegensatz zu der an Ortspezifität gebundenen Moderne für Kennzeichen einer „Übermoderne“ hält: „An den Nicht-Orten der Übermoderne gibt es stets einen speziellen Platz, an denen ‚Sehenswürdigkeiten‘ als solche präsentiert werden – Ananas von der Elfenbeinküste, Venedig, die Stadt der Dogen, Tanger, die Ausgrabungen von Allésia.“ (16)
Goldberg, einerseits aus der Tradition der Ortsspezifik kommend, stellt diese Kategorie andererseits subtil infrage und wendet sich damit von dem bestimmenden Credo einer über 40-jährigen Tradition von Kunst im öffentlichen Raum ab: So auch mit der 2012 von ihm im norwegischen Bergen errichteten 416 m² großen Metallfläche 60°N 05°E (encased waterside), die sich wie ein Wabenmuster über einen kleinen innerstädtischen Küstenstreifen zieht. Es handelt sich um eine monumentale, an den Felsgrund angepasste und in etwa 50 cm Bodenhöhe installierte spiegelnde Fläche. Sie ist das Ergebnis eines internationalen Wettbewerbs, den der Künstler 2010 gewonnen hat. Obwohl diesmal sogar bereits im Titel mit nördlichen wie östlichen Koordinaten versehen, konterkariert die Arbeit erneut die Identität ihres Ortes. Nimmt doch schon allein die Spiegelplatte, die wie ein rechteckiges, über den Felsenstreifen bis auf die Straße reichendes, ausgelegtes Tuch über der Bucht liegt, kaum Rücksicht auf die städtebaulichen und geografischen Bedingungen. Es ist eine Art Anti-Skulptur, die gerade nicht den Charakter bzw. die Identität dieses Ortes hervorzuheben sucht, dafür aber – wie der Künstler prophezeit – bei der nächsten fotografischen Aktualisierung per Google-Satellit das Spiegelbild des sie fotografierenden Trabanten wiedergeben müsste: eine ihre Aufnahme selbst reflektierende Skulptur für den nächsten Google EarthReisenden. So wie die Staffelei des Malers im Spiegel oder Lüster des Interieurs auf die persönliche Autorschaft und den Entstehungsprozess des Gemäldes hinweist, so würde der Satellit sich als Zeichen weltumspannender Erfassbarkeit und Verwertbarkeit in die Skulptur einschreiben. Dessen idealer Betrachterstandpunkt wäre weniger an seinem realen Ort als am heimischen Computerbildschirm zu suchen.
Wie kann überhaupt ein solchermaßen von eindrucksvoller Landschaft geprägter Ort skulptural thematisiert werden? Ist nicht angesichts der Einzigartigkeit der norwegischen Fjordlandschaft jeder Versuch einer skulpturalen Markierung, Überhöhung oder Interpretation letztlich der Lächerlichkeit und der Gefahr des Abrutschens in landschaftliche Klischees preisgegeben? Goldberg antwortet auf diese Fragen mit einem silbernen Tuch und kontert die beeindruckende Naturlandschaft mit der Absurdität und zugleich Lapidarität eines wie auf den Felsenstrand abgelegten metallischen Läufers. Die Skulptur wird zu einem Symbol für die Überlagerung alles Landschaftlichen durch deren technische Simulationen sowie touristische Überschreibungen. Steiniger Küstensaum, technoide dem Bodenniveau folgende Stahlkonstruktion und Erhabenheit des Naturpanoramas überlagern sich. Der Künstler wagt es, ein Gegenbild des Ortsspezifischen ausgerechnet an einem Ort zu schaffen, der an landschaftlicher Markanz kaum zu überbieten ist und damit die vorgebliche natürliche wie kulturelle Identität des Ortes zu negieren, um diesen zum Nicht-Ort zu erklären. Im Sinne von Marc Augé werden die von ihm bespielten Orte zu Palimpsesten, bei denen das verworrene Spiel von Identität und Relation ständig aufs Neue seine Spiegelungen findet. (17) Thorsten Goldberg negiert das Spezifische seiner Orte und behandelt sie in provozierender Weise wie austauschbare, kontingente und universell angeglichene Nicht-Orte, deren Funktion wie beispielsweise bei den international austauschbaren Shopping-Malls oder Flughäfen darin besteht, dass sie uns als Vehikel in eine andere Welt jenseits der tatsächlichen Ortshaftigkeit dienen.
Folgt man der Sichtweise des in Indien geborenen Literatur- und Kunstwissenschaftlers Homi K. Bhabha ist kulturelle Identität angesichts der radikalen Veränderungen der Gesellschaft zu einer Migrations-, Informations- und Mediengesellschaft grundsätzlich nicht mehr an einen Ort gebunden, der als geschlossen, einheitlich und homogen verstanden werden darf, der dementsprechend auch nicht geeignet wäre, einen klaren Rahmen für deren ortspezifische künstlerische Interpretation vorzugeben. Der Ort, an dem etwas sein Wesen beginnt, ist nach Bhabha die Grenze. (18) „In diesem Sinne wird die Grenze zu dem Ort, von woher etwas sein Wesen beginnt; dies geschieht in einer Bewegung, die dem unsteten, ambivalenten Charakter der Verbindung mit dem jenseits Liegenden ähnelt.“ (19) Unter diesen Bedingungen wäre auch die auf dem Konzept fest umrissener Identität des Ortes beruhende Kategorie der Site-Specifity als zeitgenössische künstlerische Methode infrage zu stellen.
Goldbergs Arbeit trägt dieser Veränderung im Umgang mit dem Verständnis öffentlicher Räume Rechnung. Sein Konzept von Ortsbezogenheit versucht nicht den Ort als eine in sich geschlossene unverwechselbare Einheit zu markieren oder festzuschreiben. Auch sein Werk in Bergen bezieht seine Radikalität nicht aus der pointierenden Interpretation ihres Ortes, sondern aus der Relativierung seiner zu erwartenden Einzigartigkeit sowie der Bewusstmachung der Überlagerung jenes Ortes durch Schichten unterschiedlicher Betrachtung. Das „spiegelnde Tuch“ ist letztlich nur aus der Luft in seiner markanten Form erkennbar, wird also von Passanten als eine unübersichtliche, schwer ortbare und entsprechend der Tidestände sich in seiner Ausdehnung permanent verändernde, ins Wasser übergehende Fläche wahrgenommen. In ihm spiegeln sich die umliegende Bergwelt, Lichter, der klare Himmel oder die Wolken derart, dass sein Spiegelbild kaum vom Umfeld zu unterscheiden ist. Bestimmend für seine Wahrnehmung ist die Verwischung der Grenzen zwischen Natur- und Kunstraum, zwischen Wasserfläche und poliertem Metallpaneel, zwischen Ortserfahrung und Satellitenaufnahme. Sie ist ganz im Sinne von Bhabha ein kaum abgrenzbarer Ort des kulturellen Übergangs, der Differenz und der imaginären Zwischenräume.
So sehr Goldberg den Entzug ortspezifizierender Längengrade bei 54°4 min. oder Dograce + Steep Holm zum strukturellen Merkmal seiner Arbeit erklärt, so konkret benennt er diese in einer anderen Werkgruppe, die sich mit dem historischen Pendant des Paradieses, mit dem Schlaraffenland, beschäftigt. Gleich für drei wichtige Werke, Milch & Honig, Nächste Fahrt – Milch & Honig sowie Flüsse aus Wein + Bier, erklärt er die genaue kartografische Erfassung des Schlaraffenlandes durch die um 1716 gezeichnete Landkarte „Accurata Utopia Tabula“ des Kartografen Johann Baptist Homann zur Grundlage.
Wo aber liegt nun dieses Schlaraffenland? Es wird historisch parallel zum Paradies als ein Traumland angesehen, das man auch als „Cocagne“ bezeichnete. (20) Bereits ein irischer Schlaraffenland-Text aus dem frühen 14. Jahrhundert beginnt mit der Feststellung: „Weit im Meer, westlich von Spanien, liegt ein Land, genannt Cockanien.“ (21) Marco Polo beschreibt seine entdeckten Länder ebenfalls mit Visionen, die den Schlaraffenland-Fantasien entsprachen: z. B. würden dort Stämme leben, die Ehebruch und öffentlich gelebte Promiskuität mit willigen Frauen betreiben. Solche Reiseberichte vermitteln den Lesern ein Bild von einem des Konkreten enthobenen ultimativen Erfüllungsort aller denkbaren Sehnsüchte. (22) Hierin unterscheidet sich das Schlaraffenland vom Paradies, welches zwar über Jahrhunderte als leider unentdeckt, doch zugleich als feste geografische Größe galt. Das Paradies wurde im Osten lokalisiert und wartete, noch im späten Mittelalter von niemandem angezweifelt, auf seine Entdeckung irgendwo jenseits des Meeres. (23) Die Route zu seiner Entdeckung führte, so nahm man an, einem bestimmten Breitengrad folgend, über das Meer um den Globus herum in den Westen. Zu dessen Verortung fehlte jedoch der nur mithilfe akkurater Zeitmessung zu ermittelnde Längengrad. Als schließlich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die für die genauere Seenavigation entsprechende Uhrwerkstechnik bereitstand, war längst ein Zeitalter angebrochen, in dem aufklärerische Rationalität und weitgehende Vervollständigung der Erderfassung den Glauben an den Realitätsgehalt des Paradieses unterlaufen hatten. Wurde das Schlaraffenland im Gegensatz zum Paradies sehr wohl in mehreren fantasievollen Karten und Beschreibungen spätestens seit dem Mittelalter genau verzeichnet, so wurde doch gleichzeitig dessen prinzipiell fiktiver Charakter niemals bezweifelt: Das Schlaraffenland war immer ein mit Freude ausgemalter Ort im Nirgendwo der Fantasie, während das Paradies seiner realen Entdeckung harrte.
Thorsten Goldberg macht die sich über Jahrhunderte ziehende Geschichte der Definition und Entdeckung des Paradieses, wie dessen karikatureske Steigerung als Schlaraffenland zu Grundlagen seiner künstlerischen Reflektionen und kommentiert nicht zuletzt unseren Umgang mit Sehnsuchtsvorstellungen. Seine Überarbeitung der von ihm erworbenen Karte zeigt er in einem großen Leuchtkasten, der auch im Außenraum präsentiert wird. Dabei hat er sie mit einer sich auf die Koordinaten der Karte beziehenden Legende versehen, die sämtliche der fast 2000 Orte, Flüsse, Berge u. ä. erfasst. Wie in einem heutigen Atlanten kann man nun anhand der Legende die außergewöhnlichsten Orte finden: Faulbett, Sauvol, Prosit, ZumVollenfaß, Geilbach, SchlampenMorast, Sündenmeid, LiebeBerg, UrsprungdesEwigenLebens etc. Es sind die Koordinaten einer verkehrten Welt, die sich in diesen Ortsnamen widerspiegeln und die Goldberg aus der Welt abstrakten Wunschdenkens in eine zuordenbare Realität überführt: Lohn für Nichtstun und Schlaf sowie Faulenzen als Infragestellung des Prinzips Arbeit und Fleiß; Völlerei als Gegenbild zur Unregelmäßigkeit der Ernährungslage; der Wunsch nach ewiger Jugend und ewigem Leben; sexuelle Freizügigkeit als Demonstration unschuldigen Umgangs der Geschlechter. In den historischen Namenserfindungen spiegeln sich Kompensationen damals zeitgenössischer Ängste und gesellschaftlicher Missstände. Sie haben bei Goldberg eine kategorisierende Verortung erfahren und eignen sich damit zum potenziellen Reiseziel. Sie werden mit buchbaren, über Navigationssysteme ansteuerbaren All-inclusive-Wellness-Zielen der heutigen Tourismusindustrie, die aus mittelalterlicher Sicht geradezu die Erfüllung des Schlaraffenlandes verkörpern müssten, vergleichbar. Ihr Informationsentzug liegt weniger in der fehlenden Angabe des Längengrades als in der klischeehaften Verortung sehnsuchtsgeleiteter Wunschvorstellungen.
Die Karte hat Goldberg zuerst 2003 als großen Leuchtkasten am Pariser Platz unter den Linden, im direkten Umfeld der Ambassade de France sowie KPM, Bugatti und dem Berliner Luxus Hotel Adlon aufstellen lassen. In Heidenheim installierte er 2004 eine mit einem elektronischen Display ausgestatte Haltestelle Nächste Fahrt – Milch & Honig. Sie kündigte damit die der barocken Schlaraffenlandkarte entnommenen Reiseziele an. Die mit den schillernden Ortsnamen verbundenen Versprechungen bringt er erneut 2006 in der Wiesbadener NeonInstallation Flüsse aus Wein + Bier sowie 2012 in einer Aktualisierung in der Gerisch-Stiftung in Neumünster zum Leuchten: „Flüsse aus Wein + Bier + Straßen aus Ingwer + Muskat. Auch ist dort weder Krüppel, noch Blinder noch Schielauge noch Stummer, noch Krätze- oder Pickelleider noch Missgeburt + jeder ist vollkommen schön an allen Gliedern + Und die Kraft der Männer, mit Lust bei ihren Weibern zu liegen, lässt niemals nach +.“ (24) Diese fantastischen, im 15. Jahrhundert formulierten Verheißungen des Schlaraffenlandes geraten durch seine Installationen in eine eigentümliche Konkurrenz zu den kommerziellen Leuchtreklamen des 20. und 21. Jahrhunderts. Gleichzeitig erhalten die ursprünglich jeglicher Konkretisierung enthobenen Wunschbilder einer bewusst verkehrten, fabulierenden und letztlich ortlosen Welt des Schlaraffenlandes ihre auf Realisierung setzenden Koordinaten als Bauschild auf einem Bahnhofsvorgelände oder als werbeträchtiges Idylleversprechen in einem Skulpturenpark. Die Sehnsüchte scheinen während der letzten 500 Jahre unverändert, deren anderer auf Verfügbarkeit und Käuflichkeit angelegter Umgang wird von Goldberg zum Thema erklärt.
Die gleiche geradezu absurde Zurschaustellung jener Paradoxie – eigentlich abstrakte, fantastische und sehnsuchtsgeleitete Vorstellungen an konkrete Orte zu binden, die zwar in einem inhaltlichen Zusammenhang zu den gezeigten Objekten stehen, jedoch keine dem Ort abgerungene Zwangsläufigkeit aufweisen – ist auch für Goldbergs Wolken-Skulpturen charakteristisch. Es handelt sich hierbei um eine Serie von stilisierten Wolkennachbildungen, die er jeweils anstelle der geografischen Koordinaten mit deren Entstehungsdatum bezeichnet. Cumulus 08.07 ist ein auf der Spitze einer Traverse über dem Flüsschen Lippe in Lippstadt schwebendes Neonobjekt. Jeweils eine weitere stilisierte Haufenwolke aus Kunststoff schwebt über dem Gartenhof des Berliner Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und als Cumulus 11.08 inmitten des Gerisch-Skulpturenparks über dem Privathaus des Stifterpaares Herbert und Brigitte Gerisch in Neumünster. Getragen werden sie von hoch aufragenden und weit auskragenden Metallwinkeln aus poliertem Edelstahl. Ausgerechnet eine Wolke – Inbegriff für Immaterialität, Flüchtigkeit und ständige Veränderung – hat der Künstler in comicartiger Schematisierung in glänzenden Kunststoff gießen lassen, um sie mit viel statischem Aufwand in luftiger Höhe auf einem glitzernden und beweglichen Stahlträger, dem Wolkenbügel, zum Schweben zu bringen. Kaum ein Objekt, das sich der skulpturalen Verfestigung stärker widersetzen würde als eine Wolke. Und nun setzt Goldberg dieser flüchtigen Verdichtung schwebender Wassertröpfchen, dieser romantisch besetzten Projektionsfläche menschlicher Sehnsüchte ein Denkmal? Ihre künstlerische Spannung bezieht sie erneut aus genau diesem Widerspruch: einerseits als nüchterne, auf den Ort abgestimmte Materialisierung kaum konkretisierbarer Flüchtigkeit einer Wolke, wie ein Zitat der Pop-Art, subversiv komisch, andererseits als ortsunabhängiges Zeichen sehnsuchtsbesetzten Fernwehs ein Bedeutungsträger romantischer Transzendenz. Das für die Kunst im öffentlichen Raum über Jahrzehnte unumstößliche Prinzip der Ortsbezogenheit wird hier in eine utopische, den Ort transzendierende Dimension überführt. Den Ort der Installation reduziert der Künstler lediglich auf seine Funktion als Standort, von dem aus die Gedanken in die Ferne schweifen, dem Ort entfliehen können. Dass die Wolke in Neumünster zudem nicht nur aus dem musealen Park heraus wahrnehmbar, sondern auch für die Straßenpassanten über die Grundstücksmauer hinweg sichtbar ist, betont einmal mehr den grenzüberschreitenden Anspruch der Arbeit Thorsten Goldbergs, sich nicht auf die Dichotomisierung von Ort und NichtOrt, privat und öffentlich, Kunst und Politik, Diesseits und Jenseits einschränken zu lassen.
„Jeder Park“, so formuliert es die französische Künstlerin Dominique Gonzalez-Foerster in einem Kommentar zu ihrer ebenfalls in einem Park befindlichen Arbeit auf der documenta 11 „Park – A Plan for Escape“, „sei es der Rosengarten in Chandigarh, der Pariser Park in Rio de Janeiro, der Parc de la Villette in Paris, der chinesische Garten in Zürich, der japanische Garten in São Paulo, spielt mit dieser Möglichkeit der Flucht – der Stadt durch eine organische Umwelt, aber auch durch andere kulturelle Bezüge zu entfliehen.“ (25) Dafür setzte Gonzalez-Foerster heterogene Versatzstücke aus aller Welt als gedankliche Fluchtorte in den Park der Kasseler Auewiesen. Es sind Gegenstände, die Reiseerinnerungen an „die zurückgelegte Seeroute der Gegenstände aus Veracruz, Rio de Janeiro und Bombay, eine langsame Überquerung der Meere durch mehrere Klimazonen hindurch …“ (26) in sich tragen. Und wenn die Künstlerin in ihrem Statement schließlich den Park als Raum interpretiert, der sich „bruchstückhaft“ entfaltet, als ambivalenten „Spielplatz“, als „Übergang von einem Raum zum anderen“, als „Beginn einer Verwandlung unseres Verständnisses von Situation“ (27), dann klingt dies wie eine konkrete Umsetzung des von Bhabha skizzierten Konzepts eines diskontinuierlichen und gebrochenen „dritten Raums“. Ebenso wie Thorsten Goldberg kontert GonzalezFoerster das Spezifische des realen Ortes mit der Hybridität und Brüchigkeit eines globalen Puzzles, die Parkrealität des Außenraums mit einer imaginären und projektiven Bildhaftigkeit.Kunst bildet, so verstanden, Ausgangspunkt und Erkundungsraum unserer Paradies-Vorstellungen, in denen sich zugleich Öffentlichkeit besser spiegelt als in jeder pointierenden Markierung des Straßenraums. Öffentlichkeit wird dabei jedoch neu definiert: als permanente Projektion, in ständiger Bewegung, ortlos, unwirklich, utopisch.
„Kann man Stille sehen?“ fragt Thorsten Goldberg auf seiner Website zu einem besonderen Projekt, Die Potsdamer, (28) dessen Realisierung seit 2005 längst vollzogen worden wäre, hätte die Berliner Senatsverwaltung nicht am 7. Februar 2005 nachträglich und entgegen der Jurierung des von ihr eingesetzten Preisgerichtes entschieden, „keine Fördermittel für die Realisierung des Kunstobjekts zur Verfügung zu stellen“ (29). Obwohl Goldberg den Wettbewerb gewonnen hatte und damit für die Umsetzung beauftragt war, wurde diese unter anderem mit der Begründung untersagt, der Öffentlichkeit sei nicht zu vermitteln, für ein Kunstprojekt so viel Geld auszugeben. Der prominent ausgeschriebene Realisierungswettbewerb konnte aufgrund politischer Vorbehalte nicht realisiert werden. Dabei mutet Die Potsdamer zunächst völlig harmlos an. Der Künstler will für einen 45-minüten Dreh an einem frühsommerlichen Sonntagmorgen die aus früheren Zeiten klangvolle Berliner Magistrale sperren und von jeglichen temporären Zutaten befreien: keine Autos, keine Werbeschilder, keine Menschen – die Potsdamer Straße all ihres geschäftigen Lebens beraubt und pur auf ihre Substanz reduziert. Durch diese unwirklich menschenleere Szenerie schreitet ein durchtrainiertes elegantes Rennpferd mit einem weiblichen Jockey – eine zierliche, artifizielle Reiterin als Gegenzitat zur Tradition heroischer Reiter-Standbilder. Der Reiterin folgt eine Kamera, die zugleich mit dem Ritt auch die unwirklich stille und geräumte Straße filmisch dokumentiert. Der Künstler plante diesen Film auf einer eigens installierten großformatigen LEDMonitorwand direkt über der Potsdamer Straße im ständigen Loop zu zeigen. Der Film würde wirken, als sei er nachträglich per elektronischer Bildbearbeitung bereinigt worden. Dabei hätte er den Beweis dafür antreten können, dass dieser dem Alltag enthobene „traumhafte Zustand“ (30) tatsächlich einmal Wirklichkeit gewesen ist.
Erneut entzieht der Künstler mit dieser Arbeit dem von ihm bespielten Ort wesentliche Koordinaten für dessen Bestimmung. Machen nicht die Menschen, die Geschäfte, der Verkehr, das Leben die eigentliche Essenz der Potsdamer Straße aus? Unterläuft Goldberg mit der künstlichen und höchst aufwendigen Räumung zugunsten eines aus seiner Perspektive fiktiven Idealzustands nicht die spezifische Charakteristik der Straße? Traumhaftes Gegenbild und Charakteristik des Ortes aber bedingen einander. Das fiktive Bild des Paradieses kann mehr über den Ort seiner Entstehung aussagen, als dessen künstlerische Sezierung – so die Quintessenz des Ansatzes Thorsten Goldbergs.
Bei Die Potsdamer wird der Betrachter erneut zu einem verheißungsvollen Weg in eine paradiesische Welt verführt. Ist dieser hier auch von der dem Straßenverlauf folgenden Reiterin vorgegeben, so ist er strukturell vergleichbar mit der Linie entlang des Breitengrades zu fernen Inseln, der vom Wind getriebenen Wolke oder den historischen Fantasien von Cocagne, wie sie sich in den Schlaraffenlandarbeiten zeigen. Immer wird der Ort der künstlerischen Arbeit zum bloßen Anlassgeber für dessen gedankliches, romantisch gestimmtes Verlassen eingedampft. Er wird überschrieben von allgemeinen, vom Ort höchstens angeregten Sehnsuchtsvorstellungen: Im Falle der ansonsten durch alltägliche Betriebsamkeit gekennzeichneten Potsdamer Straße ist es die Vision der Stille, des Heraustretens aus der Zeit, die für einen Moment wie eingefroren wirkt. Doch scheint es, dass gerade in der Negation des Ortes die besondere Sprengkraft der künstlerischen Arbeit Goldbergs liegt. Warum sonst müsste sich der Berliner Senat sorgen, der Öffentlichkeit sei nicht zu vermitteln, für ein solches Kunstprojekt Geld auszugeben? Ist dahinter die Angst zu vermuten, dass die vielbeschworenen Spezifika solcher Orte – das Berliner Flair? – als Ergebnis global austauschbarer Überschreibungen für deren Wahrnehmung nicht mehr zuvorderst bestimmend sind? Dass sich damit das Potenzial von Öffentlichkeit in einen anderen Kommunikationsraum verlagert hat und städtische Realität zur Folie universeller Marketing- und Stadtplanungsstrategien geworden ist? Oder ist es schlicht das von Thorsten Goldberg angewendete Prinzip des Wegnehmens anstelle eines Hinzufügens, das den künstlerischen Prozess für gewöhnlich ausmacht und somit zur politischen Ablehnung der Wettbewerbsrealisierung führte? Ist aber das alte Konzept der Ortsspezifität, des plastisch formulierten Gegenübers von Kunst und streitbarer Öffentlichkeit, auf einen solchen als kontingent zu definierenden und im ständigen Fluss befindlichen Raum überhaupt noch anzuwenden? Thorsten Goldberg definiert Orte heutiger Öffentlichkeit neu, als Nicht-Orte, in ständig neu überschriebener Bewegung, sichtbar zu machen eher durch den Entzug der sie nur scheinbar determinierenden Koordinaten als durch die Bestimmung ihrer Identität – mit Koordinaten des Utopischen.
(1) Vgl. Dava Sobel und William J. H. Andrewes: Längengrad, Berlin 2010 (New York 1995).
(2) Vgl. Hermann Pleij: Der Traum vom Schlaraffenland. Mittelalterliche Phantasien vom vollkommenen Leben, Frankfurt am Main 2000 (1997), S. 309 f.
(3) Vgl. ebd., S. 310 f.
(4) Vgl. Hermann Pleij: Der Traum vom Schlaraffenland. Mittelalterliche Phantasien vom vollkommenen Leben, Frankfurt am Main 2000 (1997), S. 289.
(5) Ebd., S. 24.
(6) Vgl. Daniel Kehlmann: Fingerreisen, in: du762 – Weltkarten. Eine Vermessenheit, Zeitschrift für Kultur, Nr. 11/12 Dezember 2005/Januar 2006, S. 20.
(7) François-René de Chateaubriand: Reise von Paris nach Jerusalem, Leipzig 1811, zit. nach: Marc Augé: Nicht-Orte, S. 92.
(8) Marc Augé: Nicht-Orte, München 2010 (Paris 1992), 1992, S. 92.
(9) Ebd., S. 83.
(10) Ebd., S. 96 f.
(11) Marc Augé: Nicht-Orte, München 2010 (Paris 1992), S. 83 f.
(12) Nachhausegehen, Zuhausesein, Zuhausebleiben, 1991, zit. nach: Martin Henatsch: Thomas Bauer, in: Ausst.-Kat. Kunst im Weltmaßstab, Schleswig-Holsteinischer Kunstverein, Kunsthalle zu Kiel, 1993.
(13) Der Entwurf von Thorsten Goldberg hat den 2. Preis erhalten, wurde daher nicht realisiert.
(14) Vgl. Miwon Kwon: One place after another: site specific art and locational identity, Cambridge/MA, London 2002.
(15) Richard Serra, zit. n.: Ausst.-Kat. Richard Serra. Running Arcs. For John Cage, Düsseldorf 1992, S. 63.
(16) Marc Augé: Nicht-Orte, München 2010 (Paris 1992), S. 110.
(17) Ebd., S. 83 f.
(18) Vgl. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000.
(19) Ebd., S. 7.
(20) Vgl. Hermann Pleij: Der Traum vom Schlaraffenland. Mittelalterliche Phantasien vom vollkommenen Leben, Frankfurt am Main 2000 (1997), S. 315 ff.
(21) Ebd., S. 222.
(22) Vgl. ebd., S. 312.
(23) Vgl. ebd., S. 221.
(24) Leuchtstoffröhrentext „Milch + Honig +“, aus: „Sterfboeck“ (Sterbebuch), 1491 – eine praktische Anleitung und Lebenslehre, deren Zweck darin bestand, die richtigen Verhaltensweisen aufzuzeigen, damit die Person nach dem Tode die richtige Abteilung im Jenseits erreichen konnte.
(25) Dominique Gonzalez-Foerster im Gespräch mit Lars Köllner, in: skulptur projekte münster 07, Köln 2007, S. 57.
(26) Dominique Gonzalez-Foerster: Park. Ein Fluchtplan, in Ausst.-Kat. Documenta 11_Plattform 5: Ausstellung, Ostfildern-Ruit 2002, S.564.
(27) Vgl. ebd., S. 564.
(28) http://www.potsdamerstrasse.com/files/film.html, 31. 3. 2011.
(29) Petra Henninger: artnet® Magazin, http://www.artnet.de, 8. September 2005.
(30) Thorsten Goldberg: http://www.potsdamerstrasse.com/files/film.html, 18. 3. 2012.