Über Milch und Honig
Thorsten Goldbergs Utopia Station
Montse Badia
Am südlichen Ende der Heidenheimer Einkaufszone, da wo sich die Hauptstrasse zum Fuße des Schloss Hellenstein platzartig verbreitert, hat Thorsten Goldberg zwischen einige Bänke und einem Baum eine Haltestelle gebaut. Auf einem elektronischen Display, das an einem fünf Meter hohen Edelstahlmast angebracht ist, wird täglich ein zufällig gewähltes Reiseziel angezeigt. Oben auf der Spitze des Mastes steht eine Wetterfahne. Direkt unterhalb dieser Anzeigetafel befindet sich ein bunter Propeller mit verzierten Zeigern, der durch Wind angetrieben zu einer Art Winduhr wird. Auf Augenhöhe ist eine Landkarte an den Mast angebracht, auf der man die genauen Ortsangaben aller Reiseziele, die auf dem LCD Display angekündigt werden, finden kann. Wollustberg, Wuchersheim, Dienstverkauf, Fingerinhals, Wexelbalg, Nasenabschneiding, Schlampen Morast, Partitten Fluss … sind nur einige der Reiseziele, die oben auf der Anzeigetafel angekündigt werden. Es sind Orte eines Gelobten Landes, die von hier aus angefahren werden. In diesem Land gibt es „Flüsse aus Wein und Bier, Straßen aus Ingwer und Muskat, eine ideale Geländeform und fruchtbare Bodenbedeckung. Kostbare Gebäude und Gewerbe, in denen niemand kauft oder verkauft.“ 1) Hier gibt es „ … weder Krüppel, noch Blinder noch Schielauge noch Stummer, noch Krätze- oder Pickelleider noch Missgeburt, sondern jeder ist vollkommen schön an allen Gliedern. Und die Kraft der Männer, mit Lust bei ihren Weibern zu liegen, lässt niemals nach. Die Frauen gebären tanzend und musizierend, und die Kinder, kaum daß sie geboren sind, sprechen, essen, laufen und machen alles von selber. Und auch wenn sie Kinder geboren haben, zeigen sich bei ihnen weder schlaffe Hängebrüste, noch Falten, Brüche oder dergleichen mehr. Sie sind von Jungfrauen nicht zu unterscheiden. An allen Stellen ihres Körpers gleichen sie ganz den Jungfrauen.“ 2)
Selbst die vielversprechendste Werbebroschüre eines Tourismusverbandes könnte solch ein Land nicht verführerischer darstellen. Schlaraffenland oder auch Narrenparadies wird dieses Land genannt, das detaillgetreu auf der am Mast befestigten Landkarte dargestellt ist. Es ist die Accurata Utopia Tabula, um 1700 gezeichnet von Johann Baptist Homann, dem berühmten Kartografen, der sowohl Generalkarten der ganzen bekannten Welt zeichnete, als auch Atlanten des Himmels herstellte. Inspiriert wurde er dazu durch das im Jahre 1694 erschienenen Buch Das neu entdeckte Schlarraffenland des Generals Johann Andreas Schnebelin. Dieses utopische Land „ … bildet einen ganzen Weltteil, bestehend aus 17 Provinzen und etlichen Inselgruppen, mit beinahe 2000 fiktiven Ortsnamen, Flüssen und Seen, die mit ihren phantastischen Ortsbezeichnungen sowohl vom sattem Wohlstand und bizarrem Überfluß an jederzeit mühelos konsumierbarer, abwechslungsreicher Nahrung erzählen, als auch Zeugnis liefern von beständig drohendem Mangel.“3) In der Mitte des Kontinentes liegt das Land, indem Goldmünzen auf der Straße herumliegen, schöne Kleider an den Bäumen wachsen und in dem niemand arbeitet, weil sich alles von selbst produziert.
Es handelt sich eindeutig um ein fiktives Land, das gleichzeitig an das biblische Gelobte Land, den Garten Eden, erinnert. So betitelt Thorsten Goldberg keineswegs zufällig seine Arbeit als Nächste Fahrt, Milch und Honig. Dieses alternative Gelobte Land können wir als ein universelles Symbol, in vielen Sprachen und Kulturen finden: the Land of Cokaygne (Cocagne im Französischen, Cucaña im Spanischen oder Cockaengen im Holländischen), Tierra de Jauja, „Eldorado“, oder als das Schlaraffenlandt (1530) von Hans Sachs.
Seit jeher war es uns Menschen ein Bedürfnis, unsere Vorstellungen einer andersartigen und besseren Welt auszudrücken. Formuliert finden sich diese Visionen in den Utopien - den non-topos, d.h. den Unorten, in die wir unsere Visionen, Wünsche und Ideale hineinprojizieren können. Utopia - das ist die uralte Suche nach Glück, Freiheit und nach dem Paradies. Utopia - das ist die allgemein gültige Vorstellung für die beste aller möglichen Welten. 1516 beschrieb Sir Thomas More in seinem Buch Utopia, eine Insel im Nirgendwo, die deshalb vollkommen sicher ist, weil kein Sterblicher sie finden kann. Unter dieser Prämisse entwarf er eine Gesellschaft mit einer idealen sozialen Ordnung. 1900 gründeten Ida Hofmann und Henri Oedenhokoven eine Kommune mit einer Gruppe Gleichgesinnter, welche ihre früheren überkommenen Gewohnheiten aufgaben, damit ihr Leben natürlicher und gesünder würde. Wahrheit und Gedankenfreiheit waren ihre hauptsächlichen Zielvorstellungen. Sie nannten die Gemeinschaft Monte Verita. 1904 stellte der Lebensreformer Friedrich Eduard Bilz 4) einen fiktiven Vergleich zwischen dem „Volk im heutigen Staat“ (im Jahre 1900) und dem „Volk im Zukunftsstaat“ (im Jahr 2000) an. In bildlichen Darstellungen illustriert er wachsenden Wohlstand und eine Weiterentwicklung alltäglicher und grundlegender ebenso wie ideeller Dinge:
Der Darstellung „10 stündige Arbeitszeit“ auf der Seite „Das Volk im heutigen Staat“ (1900) stellt er das Bild „3 stündige Arbeitszeit“ auf der Seite „Das Volk im Zukunftsstaat“ (2000) gegenüber; der „Schlafkammer mit geschlossenen Fenstern“ (1900) stellt er „Häuser mit 2 überdachten Schlafbalkons“ gegenüber; „Existenz-, Konkurrenz- etc. -Kampf“ verwandelt sich in „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“; der „Kriegsschauplatz“ wird zum „Irdischen Paradies“ und der Darstellung unzufriedener Arbeiter in: „Neue Staatseinrichtung in Sicht“ werden tanzende „Glückliche und Zufriedene Menschen“ gegenübergestellt.
Aus heutiger Sicht, scheint mir, dass wir in mancher Hinsicht dieser Beschreibung der Welt von 1900 näher sind, als der Vorstellung, die Bilz vom Jahre 2000 hatte. Es erstaunt daher nicht, dass es heute wie damals wichtig ist, über Utopien nachzudenken. So gaben auch Molly Nesbit, Hans Ulrich Obrist und Rirkrit Tiravanija der von ihnen kuratierten Ausstellung auf der letzten Biennale in Venedig (2003) den Titel Utopia Station.
Utopische Visionen waren von je her reine Luftschlösser, und jeder Versuch sie zu realisieren ist bis heute gescheitert (sie entpuppen sich als Despotismen). Laut Bertolt Brecht ist Utopia „das, was fehlt“ und dieses Bewusstsein und die Unzufriedenheit darüber veranlasst die Menschen Wünsche zu entwickeln und sich Dinge vorzustellen. Jedoch Vorstellungsvermögen als gestaltende Kraft findet in die gegenwärtige Politik kaum Eingang. Hier sollte sich Politik als „Staatskunst“ wiederentdecken - sowohl als individuelle Verantwortlichkeit, als auch als Kommunikationsentwurf - als ein Wegweiser zu eben jenen märchenhaften Orten: Utopia als ein geheimer Garten, dessen Eingang erst wieder gefunden werden muß …
… oder Utopia als ein angekündigtes Reiseziel, wie im Fall der Haltestelle im Zentrum Heidenheims. Hier hat Thorsten Goldberg eine Illusion konstruiert. Wenn die Passanten an der Bushaltestelle vorbeigehen, wird ihre Aufmerksamkeit vielleicht von etwas gefangen genommen, was eben nicht üblich ist. Das auf dem Display angekündigte Reiseziel passt irgendwie nicht zu ihren täglichen Erwartungen. Nächster Halt Wollustberg? Das kann doch nicht wahr sein, das ist doch frei erfunden. Die Uhr, deren Zeiger sich spielerisch in verschiedene Richtungen und je nach Windstärke, unterschiedlich schnell bewegen, scheint dieses zu bestätigen. Dies ruft Verblüffung hervor, einen Moment des Innehaltens und verunsichert. Irgendwie verändert sich etwas. Danach werden wir die Dinge nicht mehr auf die gleiche Art und Weise betrachten. Wir sind abgelenkt von unserem zielgerichteten Weg durch die Innenstadt, unserem üblichen Gang von einem Ort zum anderen, von zu Hause zur Arbeit zum Einkaufen. Der wohl definierten und zweckhaften Bewegung von Ort zu Ort wird die Möglichkeit eines ziellosen Streifzugs entgegengesetzt - es wird uns eine Pause und ein Moment des Nachdenkens gegönnt.
Genau dies entspricht dem Ansatz mit dem Thorsten Goldberg in den öffentlichen Raum eingreift. Für ihn ist „das Arbeiten im öffentlichen Raum ein Forschungsauftrag, welcher mit jedem Mal erneut von Null an beginnen sollte. (…) Eine Arbeit muss innerhalb der Situation kommunizieren, sie muss einfach in dieser Situation funktionieren. Kunstobjekte in der Öffentlichkeit sollten als Gebrauchsgegenstände in einem intellektuellen Sinne fungieren und sollten gleichzeitig einen praktischen Wert besitzen. Sie sollten den öffentlichen Raum nicht einnehmen, sondern Raum hinzufügen.“ 5)
Milch und Honig fügt diesen Raum hinzu. Indem unsere Aufmerksamkeit auf subtile Art und Weise geweckt wird, und wir dadurch veranlasst werden, einen kurzen Moment nachzudenken, werden wir plötzlich auch kritischer. Anstatt bloßer Konsument zu sein, wird uns Gelegenheit gegeben, uns als mündige Bürger zu verstehen.
Die Accurata Utopia Tabula dient Goldberg immer wieder als Gegenstand seiner künstlerischen Arbeit und jedes Mal wird die spezifische Situation sehr sorgfältig berücksichtigt. So zeigte er im Frühjahr 2003 eine Version der Accurata Utopia Tabula als Großdia in einem Leuchtkasten in der S-Bahn-Haltestelle Unter den Linden am Pariser Platz in Berlin. Zusätzlich zu den üblichen Informationstafeln, Plänen und Hinweisen sind in diesem S-Bahnhof Tafeln gehängt, die in Texten und Bildern das historische Berlin zeigen. Der Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor gehört zu den städtebaulich markantesten Stadtplätzen Berlins. Er wurde 1734 angelegt und ist heute noble Adresse der Repräsentanten der Länder mit ihren Botschaften, der großen Banken und Versicherungen und des Adlon. Genauso schildert das Sterfboek die Gebäude in dem Land, wo Milch und Honig fließen: „Die Häuser sind ganz aus feinem Gold gemacht; das Gold ist nichts wert, denn in jener Gegend ist es nicht möglich, irgendetwas zu kaufen. Und in dem Land herrscht solcher Überfluß, Daß Börsen voller Heller Einfach auf den Feldern herumliegen; Arabische und byzantinische Goldmünzen Findet man in Massen – ganz umsonst: Niemand kauft oder verkauft dort. Wer arbeitet wird ausgepeitscht, es gibt nur Schenken und Empfangen. Die Natur ist überdimensional fruchtbar und spendet den Menschen automatisch.“ Diese Phantasiekarte ohne jeglichen ergänzenden Hinweis genau hier zu installieren, betont den fiktionalen Aspekt zusätzlich und gibt damit einen spitzen Kommentar zur gesamten Situation des Pariser Platzes.
Im letzten Jahr schickte Thorsten Goldberg eine Abbildung der Accurata Utopia Tabula zusammen mit einem kompletten Register der ungefähr 2000 Ortsnamen als seinen Beitrag zu einem Künstlerbuchprojekt. Dieses Gemeinschaftsprojekt, von Andreas M. Kaufmann initiiert, bestand aus einer Einladung, der eine CD-Rom beigefügt war, welche Abbildungen aus Zeitungen, dem Internet, dem Fernsehen und anderen öffentlich zugänglichen Quellen enthielt, die der Künstler über mehr als 20 Jahre zusammengetragen hatte. Diese knapp 400 Abbildungen zeigten Krieg, Gewalt und Katastrophen ebenso wie Cover von Schallplatten, Magazinen oder auch Filmszenen. Mit der Einladung bat Kaufmann 100 Leute, darunter Künstler, Kuratoren, Schriftsteller, Architekten, Musiker usw. darum, auf diese Bilder zu reagieren und zwar ohne irgendwelche Vorgaben seinerseits. Als Reaktion auf die Beschränktheit, die Rohheit und das kaum erträgliche Bild unserer Welt, das Kaufmann da geschickt hatte, sandte Goldberg seine phantastische Karte einer Welt, in der Gewalt nicht existiert und in der Menschen in Frieden und ohne Sorgen leben. Ein Fluchtpunkt also, zumindest mental.
Die Situation in Heidenheim ist eine völlig Andere. Die Accurata Utopia Tabula ist neben Bäumen und Bänken platziert, da, wo eine kleine Seitenstraße in die Hauptstraße mündet und sich ein kleiner Platz bildet, wo sich alltägliches Leben mit touristischem Ambiente mischt und zwar aufgrund der Nähe zum Schloss Hellenstein, „welches die Attraktion von Heidenheim ist“6), wie der Künstler verdeutlicht. „Es liegt in unmittelbarer Nähe der Hauptstraße, ungefähr 100 Meter weiter oben, hoch auf dem Berg, also im Prinzip direkt über der Hauptstraße. In dieser vielschichtigen Situation kann man sich vorstellen, dass irgendein Fahrzeug an dem Objekt anhält - es ist lediglich unklar, um welche Art von Fahrzeug es sich handelt - einen Bus, eine Pferdekutsche, eine Fähre, ein alltägliches Transportmittel oder ein touristisches Transportmittel, es könnte ebenso ein Ausgangspunkt für touristische Stadtrundgänge sein. Es ist also funktional, aber Winduhr und Wetterfahne geben ihm einen spielerischen Touch. Es gibt keine Erklärung des Ganzen - weder zu den Namen, die als täglich wechselnde Zielorte erscheinen, noch zu der Landkarte. Ich glaube, dass der Klang der Namen im Kopf des Lesers ein Bild entstehen lässt. Die ganze Geschichte ist natürlich so naiv wie nur möglich. Aber als eine Aussage in den öffentlichen Raum gesetzt, hat es eine beschreibende Bedeutung.“
Da man jeden Tag nur jeweils ein einzelnes Reiseziel sehen kann, bedeutet dies, dass das Display mehr als fünf Jahre benötigen wird, um alle 2000 Namen anzuzeigen. In einer Gesellschaft, für die Geschwindigkeit die Maxime ist und das Reiseziel kaum noch eine Rolle spielt, wird Goldbergs Darstellung unerbittlich.
Wie andere zeitgenössische Künstler auch, wendet Goldberg Duchamps Strategie an, alltägliche Objekte zu Kunstobjekten umzuwandeln. Im Gegensatz zu Duchamps jedoch, verwendet er reale Lebenssituationen und wandelt sie in direkte Fragen um. Goldbergs Ansatz ist ungeheuer kritisch und politisch, aber weit entfernt davon, provokativ oder gar belehrend zu sein. In seiner subtilen und spielerischen Art konfrontiert er den Betrachter mit kleinen Verschiebungen oder Abweichungen und lädt uns ein, unsere Sicht der Dinge zu verändern und in Frage zu stellen.
Diese sich nicht sofort aufdrängende spielerische Präsenz stellt eine Konstante in allen seinen Interventionen im öffentlichen Raum dar. So auch im Falle der Arbeit Stein, Papier, Schere, als einer permanenten Markierung des ehemaligen innerstädtischen Grenzübergang zwischen West- und Ostdeutschland an der Oberbaumbrücke in Berlin. Dieser Ort ist ein perfektes Beispiel für die Berliner Geschichte vom 19.Jahrhundert bis heute, zuerst ein Symbol metropolitaner Modernität, später eine Barrikade des Kalten Krieges ist die Brücke heute verkehrstechnisch ein vielschichtiger Knotenpunkt für Fußgänger, Autos, die Straßenbahn und Fahrräder, die U-Bahn hier als Hochbahn und die Spreeschiffahrt. An diesem symbolträchtigen Ort nahm Goldberg einen dezenten Eingriff vor: Er installierte ein Kinderspiel. Über jeder Seite der Schiffsdurchfahrt platzierte er zwei runde Neonobjekte. Jedes dieser Objekte stellt drei Handstellungen als verschiedenfarbig leuchtende Neonumrisslinien dar. Über einen Zufallsgenerator wechseln die Handstellungen und ihre Farben alle sechs Sekunden. So spielen die beiden sich gegenüberstehenden Objekte „Stein, Papier, Schere“ gegeneinander, ein Spiel, das auf der ganzen Welt gespielt und verstanden wird. Obwohl doch scheinbar völlig harmlos, ist das Stein, Papier, Schere - Spiel ganz offensichtlich ein Machtspiel, bei welchem keine der beiden Parteien stärker als die andere ist, allein die Kombination (Stein schlägt Schere, Schere schneidet Papier und Papier umwickelt Stein) erzeugt die jeweilige Machtverteilung. Gleichzeitig erleben wir hier, wie Entscheidungen gefällt werden - weder durch Argumente noch gewaltsam. Indem er dieses Kinderspiel an einem Ort platziert, der mit historischen Bezügen befrachtet ist (und das Machtspiel zwischen Ost und West ist hierbei der wichtigste Bezug), wird das Spielerische und die augenscheinliche Naivität zum ironischen Kommentar und dient damit als Zugang zu einer tieferen Ebene des Nachdenkens und der Analyse.
Subtilität ist ein weiterer, sehr wichtiger Aspekt in Thorsten Goldbergs Arbeiten. Sie zwingen sich im öffentlichen Raum nie auf. Sie sind deutlich sichtbar, aber dennoch unaufdringlich. Oder, mit anderen Worten, und wie bereits zuvor zitiert, „sie nehmen keinen Raum ein, sondern sie schaffen zusätzlichen Raum“. Sie stimulieren ganz einfach unsere Wahrnehmung beim Vorübergehen. Sie erfordern eine latente Aufmerksamkeit, die uns bewusst macht, was um uns herum passiert.
Das ist auch der Fall bei curtain.mov, dem roten Vorhang im Martin-Gropius-Bau in Eberswalde. Ein 60 m langer und drei Meter über dem Boden aufgeständerter, gläserner Verbindungsgang führt durch eine Parklandschaft und verbindet das Hauptgebäude der Klinik mit dem Wirtschaftsgebäude. Hier installierte Goldberg ein großen roten Bühnenvorhang, der sich sehr langsam, kaum wahrnehmbar bewegt. Mit einer Geschwindigkeit von 1,2 mm pro Sekunde bewegt sich der Vorhang von einem Ende des gläsernen Ganges zum entgegengesetzten Ende. So dauert es 12 Stunden, bis er am anderen Ende angekommen ist. Obwohl die Bewegung selbst kaum wahrnehmbar ist, wird die Positionsveränderung nach ein paar Stunden durchaus sichtbar. Der rote Vorhang gibt uns eine zeitliche Orientierung. Er verrät uns durch seine unmerkliche Bewegung, dass nicht die Beschleunigung die eigentliche Dimension der Zeit ist, sondern dass es der konstante und ruhige Fluss ist, der uns vorwärts treibt. Auf einer Bank im Park sitzend können wir die langsame Fahrt des roten Vorhangs betrachten.
In der Heidenheimer Einkaufszone sitzend warten wir auf das Gefährt, das uns in das Land, in dem Milch und Honig fließen, bringt. So warten wir hier auf den einen Bus, der niemals kommen wird. Dieses Warten ist aber ein Anderes, als das von Vladimir und Estragon, die auf einen Godot warten, der ebenfalls niemals kommen wird. Denn in unserer heutigen launischen Welt ist müssen wir uns ja an Vorstellungen halten, zumindest brauchen wir theoretische Anhaltspunkte. Auch wenn der Begriff Utopia stark strapaziert wurde, tut Reflexion über Utopie Not. Wenn wir mit Brecht darin übereinstimmen, daß „irgendetwas fehlt“ und dass dieses Fehlende nicht zu vergessen ist, und dass es Bedeutung hat, dann birgt eine tatsächlich existierende Bushaltestelle für Fahrten ins Schlaraffenland doch wohl irgendeine Möglichkeiten des Dorthinkommens, auch wenn dieses Land weit entfernt ist. Und obwohl wir längst wissen, dass die Realisierung von Utopien in der Regel ihr Scheitern bedeutet, und ich mir nicht sicher bin, ob ich überhaupt in so einem Schlaraffenland, wo alles so einfach ist, leben wollte, tut es doch gut zu wissen, dass es irgendwo existiert, und dass es auch irgendein Gefährt gibt, das von dieser Haltestelle aus dorthin fährt.
Montse Badia, September 2004
1) aus „Sterfboeck“ (Sterbebuch), 1491 - eine praktische Anleitung und Lebenslehre, deren Zweck darin bestand, die richtigen Verhaltensweisen aufzuzeigen, damit die Person nach dem Tode die richtige Abteilung im Jenseits erreichen konnte.
2) Idem
3) Krauß, Susanne, „Der Traum von Schlaraffenland“, Rezension des genannten Buches durch Herman Pleij in „Philtrat“, Nummer 40, Mai-Juni 2001
4) Das hinterleuchtete Glasbild „Der Zukunftsstaat. Staatseinrichtung im Jahre 2000“, 1904, beruht auf Bilz´ Vision und befindet sich im Institut Mathildenhöhe in Darmstadt. Es war kürzlich Teil der Ausstellung „The Failure of Beauty“, kuratiert von Harald Szeemann in der Fundacio Joan Miro, Barcelona, 2004 und ist auf Seite 103 des Ausstellungskatalogs abgebildet.
5) e-mail-Korrespondenz mit dem Künstler, August 2004
6) idem