Matthias Reichelt
Wer hatte nicht schon Lust, sich bei einem Flug im strahlenden Sonnenschein aus großer Höhe in das flauschige und enorme Weichheit verheißende Federbett eines Wolkenmeers fallen zu lassen. Das wäre ein Sprung in ein luftiges „Nichts“, das den freien Fall keineswegs abbremsen würde, denn Wolken sind nur aufsteigende warme Luftfeuchtigkeit in kältere Gefilde. Kondensiertes Wasser, das an Schmutzpartikel in der Luft andockt. So nüchtern diese Fakten auch sind, die Ästhetik weckt Gefühle. Das Nonplusultra in der Phänomenologie der Wolken, Star und Grazie zugleich, ist die Kumuluswolke. Das funktioniert freilich gerade in der Dialektik von blauem Himmel und spärlich gesäten Wolken oder gar nur eines einzelnen Prachtexemplars. Von der Aerodynamik bewegt, schwebt sie, scheinbar zusammengefügt aus barock-rundlichen Elementen, über dem monochrom blauen Fond des Himmels. Die Kumuluswolke ist Einzelgängerin, blasiert und narzisstisch will sie keine Konkurrenz und „die Bühne“ möglichst ganz alleine bespielen.
In der Kunst gibt es Wolkenmaler, der berühmteste ist der Brite John Constable (1776–1837), dessen romantische Landschaften es als Motive in die industrielle Poster- und Puzzleproduktion geschafft haben.
Thorsten Goldberg, der sich schon lange im Bereich der Kunst im öffentlichen Raum „tummelt“, nimmt sich Jahrhunderte nach Constable der Kumuluswolke an, ohne freilich die naturgemäße Darstellung im ursprünglichen Kontext zu beabsichtigen. Vielmehr interessiert er sich ausschließlich für die nackte Tatsache der Form an sich und beschreitet künstlerisch einen ganz anderen Weg. Er löst das wolkige Gebilde aus seinem himmlischen Kontext, konfiguriert es in einem fantastisch-surrealen „Downsizing“ zum spatzengroßen Objekt. In naturalistisch anmutenden und wunderbaren Kugelschreiberskizzen „Cloud in my hand“ (2010–2012) liegt das Objekt auf der eigenen Hand, befindet sich zwischen Daumen und Zeigefinger, um es von allen Seiten zu studieren. Ein selbstreflexiver Prozess, der zum einen ein partielles Selbstportrait ist und zum anderen sich der Kumuluswolke forschend nähert. Mit dieser Serie eigentümlicher Selbstbildnisse knüpft Goldberg mit leiser Ironie an Albrecht Dürer an, der seine Hände in vielen Variationen zeichnete. Auf einem Blatt von 1508 zeigte er die linke Hand Gottes, eine Kugel fest im Griff. Ein Spiel mit Größenverhältnissen, das Goldberg mit seiner Kumuluswolke ebenso betreibt. Nachdem die Form erst einmal handlich gemacht, erkundet ist, beginnt er mit der Umsetzung der barocken Rundungen in eine kleine Skulptur als Edition in Porzellan, dessen Außenhülle zur Vermeidung des Kollabierens im Ofen perforiert ist. Durch die Löcher erhält das Objekt eine ganz andere, von der Kumulusform abstrahierte Anmutung.
Am Ende der Beschäftigung mit dieser Wolkengattung steht eine völlig weiße Skulptur aus Kunststoff (3 x 2 x 2 m), die in 5,80 m Höhe über dem Haus der Herbert-Gerisch-Stiftung installiert ist. Variationen der Kumulus-Form hatte Goldberg bereits im Vorfeld mit LED-Licht und Kunststoffstäben für diverse Orte konzipiert und ließ sogar ein Exemplar über einem Gewässer in Lippstadt schweben. Das Spiegelbild als Schimäre kommt der wirklichen Kumuluswolke als nahezu materiellem Nichts am nächsten, womit sich ein Kreis schließt.