Im Raum stehend
Eulalia Domanowska
Stationen öffentlicher Kunst in Polen
Kunst im öffentlichen Raum begann sich in Polen erst im letzten Jahrzehnt breiter zu entwickeln – in einer Zeit, als einerseits Demokratisierung und politische Transformation des Landes ein solches Wirken erlaubten und andererseits die regionalen Verwaltungen in ihrer Förderung Möglichkeiten zur Revitalisierung der Städte, der gesellschaftlichen Integration, der Ästhetisierung der Umwelt, der Bildung einer lokalen Identität und der Anregung zu einer gesellschaftlichen Diskussion sahen.
Ende der 1990er Jahre begannen Künstler wie Joanna Rajkowska und Jarosław Kozakiewicz zu wirken. Später kamen jüngere Künstler hinzu wie Maciej Kurak oder Jakub Szczęsny – Bildhauer und Architekten – die international arbeiten und kontextuelle Kunst im öffentlichen Raum präsentieren. Gleichzeitig wurden Wandmalereien wie Murals und Graffitis in Polen sehr populär. Polnische Städte und Kulturinstitutionen interessierten sich sodann stärker für solche Interventionen. Die politischen Veränderungen ermöglichten dem Land die Rückkehr ins demokratische Europa sowie die Teilnahme am internationalen Kunstgeschehen und Kulturaustausch, z. B. mit den westlichen Nachbarn. In der Ära der Reisefreiheit und der Kommunikationsentwicklung verkleinerte sich die Distanz zwischen den Ländern erheblich. Man konnte nun innerhalb von sechs Stunden mit der Bahn von Warschau nach Berlin fahren. Dies ermöglichte sowohl ein schnelleres gegenseitiges Kennenlernen als auch einen beschleunigten Erfahrungsaustausch. Dennoch ist Polen immer noch kein attraktiver Kunstmarkt und auch kein Land geworden, in dem externe Künstler unbedingt eine Ausstellung haben möchten. Künstler, die zu uns kommen, können nicht mit angemessenen Honoraren für ihre Arbeiten rechnen. Es ist eher ihre Neugier und die Suche nach neuen Erfahrungen, die sie zu einem Besuch in Polen veranlassen.
Polen ist jedoch auch keine künstlerische Wüste, vor allem was den Bereich der Kunst im öffentlichen Raum betrifft: Bereits in den 1960er Jahren begannen die polnischen Modernisten kontextuelle Kunst zu schaffen. Ein Versuch, Kunst für den öffentlichen Raum zu fördern, war die Biennale der Raumformen in Elbląg, veranstaltet von der EL-Galerie im Jahre 1965 in Zusammenarbeit mit der dort ansässigen Fabrik Zamech, einem Produzenten von Turbinen, Zahngetrieben und schweren Schiffselementen. Die Biennale fand fünfmal statt, zuletzt 1973. Resultat der gemeinsamen Aktionen von Künstlern und Arbeitern waren zahlreiche, zumeist abstrakte Skulpturen und Objekte. Die Idee knüpfte an die konstruktivistische Tradition an, die eine Annäherung zwischen Kunst und Technik, Künstler und Arbeiter als auch zwischen Werk und Rezipient anstrebte. Der städtische Raum sollte mithilfe von abstrakten Skulpturen, die aus Metallschrott angefertigt wurden, unter Beteiligung der Fabrikarbeiter organisiert werden.
Die Biennale kam damit zwar der Politik polnischer Kommunisten entgegen, die eine solche „Verbrüderung“ mit der Arbeiterklasse förderten und die Kunst als harmloses Sicherheitsventil für die „Entschärfung“ der Intelligenz betrachteten, und dennoch entstanden in diesem Zusammenhang zahlreiche Objekte und Skulpturen, die zu frühen Beispielen polnischer Kunst im öffentlichen Raum gehören. Neben dem gesellschaftlichen hatte sie auch ein pädagogisches Anliegen – die Verfeinerung des Kunstgeschmacks der Bevölkerung durch die Ermöglichung eines unmittelbaren Kontaktes mit anspruchsvoller Kunst. Ähnliche Ziele verfolgte die Biennale für Metall-Bildhauerei, die in Warschau in Zusammenarbeit mit den Kasprzak-Radiobetrieben stattfand. Es entstanden 60 Raumkompositionen, von denen einige immer noch im Stadtviertel Wola zu sehen sind. An den Projekten waren Vertreter der polnischen Kunstavantgarde beteiligt, die sich sehr schnell für konzeptuelle Kunst begeisterten. Vorträge, Manifeste, Aktionen, Fotografie und Videokunst wurden zu beliebten Formen künstlerischen Wirkens. Anfang der 1970er Jahre gewannen auch Kunstformen wie Performance und Straßentheater an Popularität.
Die 1980er Jahre brachten trotz der angespannten politischen Lage einige große internationale Veranstaltungen mit sich, zu denen ebenfalls Projekte im öffentlichen Raum gehörten. 1981, kurz vor der Einführung des Kriegsrechts, fand die Lodzer „Konstruktion im Prozess“ statt. Auf der Welle des gesellschaftlichen Enthusiasmus für die Solidarność-Bewegung arbeiteten Künstler wieder mit Arbeitern zusammen, diesmal gegen die Machthaber und vielleicht im historischen Vergleich am authentischsten; Künstler wie Richard Nonas oder Sol LeWitt erinnern sich mit Wehmut an diese herrlich spannende Zeit. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre gelang es in Zusammenarbeit mit dem FluxusKünstler Emmett Williams zwei internationale Kunstseminare in Warschau zu veranstalten. Dies förderte die Entstehung des Zentrums für Gegenwartskunst im Ujazdowski-Schloss in Warschau, das zu den größten Kultureinrichtungen in Polen gehört. Die politischen Umwälzungen in Polen nach 1989 und der Fall der Berliner Mauer brachten einen intensiveren Austausch zwischen polnischen und ausländischen Künstlern mit sich. Einer der ungewöhnlichsten Künstler, denen ich in diesem Zusammenhang persönlich begegnet bin, ist der Berliner Thorsten Goldberg, der im Jahr 2000 an dem internationalen Ausstellungsprojekt „Intrigue and provocation“ im Litauischen Kaunas teilnahm. Der Künstler präsentierte damals die kinetische Installation Detached House. Ein an einem Wagen angehängter Monitor läuft auf einer unter der Decke angebrachten Schiene durch den Galerieraum, prallt gegen die Wand und setzt anschließend seine gleichmäßige Bewegung in entgegengesetzter Richtung fort, um wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Auf dem statischen Videobild ist ein Einfamilienhaus aus der deutschen Provinz zu sehen. Das Video zeigt den realen Verlauf eines Tages an diesem Ort. Bis auf gelegentlich vorbeifahrende Autos, einen Radfahrer, eine graue und eine schwarze Katze, einen Postboten und das Ziehen der Wolken am Himmel passiert dort nichts. Es herrschen Langeweile und Eintönigkeit. Der Künstler haucht dieser Gleichförmigkeit durch die mechanische Kollision des Monitors mit der Wand Leben ein. Dessen Ablauf bleibt jedoch vorhersehbar und so unvermeidlich wie der Aufprall des Monitors. Die Kunst kann demnach nicht viel bewirken, lediglich der Galeriewand ein paar Blessuren zufügen. Diese Installation ist gleichzeitig ein gesellschaftsbezogener Beitrag zur Diskussion über Macht und Ohnmacht von Kunst. Und obwohl sie für die Präsentation in Ausstellungsräumen bestimmt ist, ist sie auch ein Beispiel für Kunst im öffentlichen Raum.
Seit 2000 zeigt Goldberg seine Arbeiten mehrfach in Polen, u. a. in der Galerie Amfilada, im Nationalmuseum in Stettin, in der Arsenal-Galerie in Białystok und in der Galerie XXI in Warschau. Seine Installation 3 Chinesen ist visuelle Poesie, die aus bunten, in Buchstabenform gebissenen Toastbroten mit Nutella, Marmelade und Wurst besteht, die den Text eines in Deutschland populären Kinderliedes bilden. Diese auf dem Straßenpflaster und auf dem Boden des Ausstellungssaals liegenden Toastscheiben empörten einen Teil der polnischen Zuschauer. Sie forderten eine ehrfurchtsvollere Behandlung von Brot, das sie zugleich in einen sakralen Kontext stellten, d. h. mit dem religiösen Ritual der Verwandlung des Brotes in den Leib Christi als Bestandteil katholischer Messen in Verbindung brachten. Die ironisch gedachte Installation provozierte unerwartet Reaktionen, die mit dem kulturellen Kontext im katholisch geprägten Polen zusammenhängen.
Im Kontext – ausgewählte Arbeiten Thorsten Goldbergs
Wenn sich Thorsten Goldberg der Provokation bedient, so ist das eher eine intellektuelle Provokation, die den Zuschauer zur Analyse und Erforschung bestimmter Wirklichkeitsbereiche anregen soll. Seine Werke können auf verschiedenen visuellen und semantischen Ebenen interpretiert werden. Sie knüpfen vielfältige Beziehungen mit der Umgebung, der Geografie, der Ortsgeschichte oder der Gruppe, für die sie bestimmt sind. Man muss sie weniger als „site-specific“, denn als „context-specific“ bezeichnen. Gesellschaftliche und politische Ereignisse, die offizielle Sprache, der Charakter der Umgebung – all das kann sich auf das Kunstwerk auswirken, das im Außenraum angesiedelt ist. Goldberg erforscht diesen Raum sehr genau, bevor er ein Projekt avisiert. Er engagiert sich für die Zusammenarbeit von Spezialisten aus unterschiedlichen Disziplinen, um sein Werk perfekt auf den gegebenen Raum abzustimmen und damit zugleich seine Beobachtungen und Analysen des Ortes zu transferieren. Unaufdringlich spricht er mit Hilfe von Symbolen, Zeichen und Anspielungen auf Erfahrungen, Emotionen und Sensibilität an. Seine Arbeiten, auch die sichtbar kritischen, wollen nicht oberflächlich provozieren. Der Künstler legt die Betonung auf Synergien und lenkt die Aufmerksamkeit der Zuschauer subtil auf ihm wichtig erscheinende Aspekte der Wirklichkeit. Er suggeriert mögliche Lösungen, ruft zur Harmonie auf und versucht uns zum Träumen und manchmal auch zum Lachen zu bringen.
Allabendlich leuchten an der Berliner Oberbaumbrücke Neonzeichen auf, die Thorsten Goldberg dort im Dezember 1997 installiert hat. Die Brücke, die Ende des 19. Jahrhunderts an die Stelle einer alten Holzbrücke gebaut wurde, war immer ein regionaler und administrativer Grenzpunkt und ist bis heute einer der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte der Stadt: Autos, Fahrräder, Fußgänger, aber auch Straßenbahn und U-Bahn führten zu einem unaufhörlichen Menschenstrom über dem Fluss. Die Brücke ist „ein Zeitdokument des für das bürgerliche, ebenso wie für das kaiserliche Berlin des für das späte 19. Jahrhunderts typischen Widerstreits zwischen dem Willen zu metropolitaner Modernität und einem tiefverwurzelten Konservatismus.“(1) Zu Zeiten Friedrich Wilhelm I. bildete die auf Baumstämmen gebaute Konstruktion die Stadtgrenze zwischen Berlin und Cölln. Ihre Gestaltung und Ausschmückung waren einmalig. Der neogotische Bau, entworfen von Otto Stahn, verbindet heute die Stadteile Kreuzberg und Friedrichshain und wurde zum Erkennungszeichen Berlins, wo es mehr Brücken geben soll als in Venedig.
Auf Befehl Hitlers im Jahr 1945 gesprengt, wurde die Brücke in den 1950er Jahren notdürftig rekonstruiert. So kam jeglicher Verkehr auf der Brücke während des Kalten Krieges fast vollständig zum Erliegen. Sie wurde zur Barrikade zwischen Ost- und Westberlin, durch die „… aus dem Osten das spärliche Rinnsal der Pensionäre, die alt genug waren …“ herausgelassen und auf der anderen Seite gegen das „… noch spärlichere Rinnsal der Westberliner …“(2) eingetauscht wurde. In den 1990er Jahren restaurierte der spanische Architekt Santiago Calatrava die Brücke und versah sie mit einem neuen Mittelstück. Damit bekam die historische Form der Brücke einen neuen Rang. Auch die ursprüngliche Konstruktion der Hochbahnbrücke wurde wieder instand gesetzt. An dem neuen Mittelstück wurden zudem beidseitig die Lichtobjekte von Thorsten Goldberg angebracht, die zeichenhaft die Gesten des bekannten Kinderspiels „Stein-Papier-Schere“ zeigen. An den Zwickeln des Stahlsprengwerks, zwischen den beiden Türmen über der mittleren Schiffsdurchfahrt, leuchten, über Zufallsgeneratoren angesteuert, alle sechs Sekunden zwei von drei möglichen Handstellungen auf, die unaufhörlich ein Spiel zu gewinnen versuchen, das nicht zu gewinnen ist. Die Objekte, die so selbstverständlich wie Verkehrsschilder wirken sollen, wurden zum integralen Element der historischen Brücke. Gleichzeitig beziehen sich die dreißig Meter über der Wasseroberfläche angebrachten Leuchtobjekte auf die acht Glasmosaik-Städtewappen der märkischen Städte Küstrin, Stendal, Brandenburg, Potsdam, Prenzlau, Frankfurt (Oder), Salzwedel und Ruppin, die sich ebenfalls auf der rekonstruierten Nachkriegsbrücke befinden. Das einfache und harmlos anmutende Spiel „Stein-Papier-Schere“ steht für zwei Personen, die gewaltfrei miteinander kommunizieren. „Das Spiel, das Zufall und unabwendbare Entscheidung zusammenführt, zeigt metaphorisch die Lage der Bewohner Berlins, die ohne ihr Zutun in eine ausweglose Situation geraten waren und durch die Grenzen versklavt wurden.“(3) Das Projekt an der Oberbaumbrücke, an der ehemaligen Grenze zwischen Ost und West, verbindet wieder beide Seiten, von denen jede als das Sinnbild des „Anderen“ wahrgenommen wurde. Thorsten Goldberg scheint uns zu sagen, dass das unaufhörlich geführte Spiel weder zum Sieg der einen noch der anderen Seite führt.
Eine andere Arbeit im öffentlichen Raum, die jedoch nicht realisiert wurde, ist Die Potsdamer. Der Film über die Potsdamer Straße ist eine Art Huldigung an diesen Ort, der seine Geschichte würdigen und seinen Bewohnern eine einmalige Gelegenheit geben soll, ihre Stadt mit anderen Augen zu sehen. Die in Berlin gelegene Potsdamer Straße ist gewöhnlich laut und lebhaft. Jeder eilt irgendwohin. „Die Potsdamer ist keine Prachtstraße“, sagt Thorsten Goldberg, „auf der man die neue Robe zur Schau trägt. Hier machen nicht Mutter und Tochter untergehakt zusammen Window-shopping. Hier wird nicht flaniert und hier wird auch nicht rumgestanden und geguckt, obwohl es genügend zu sehen gäbe – hier wird überhaupt nicht gestanden. Hier hat jeder irgendetwas zu tun. Verweilen oder Erholen passt nicht hierher. (…) Dieses bewegte Durcheinander, die bunte Mischung von Geschäften und Gewerben, die sichtbare Präsenz der Bewohner aus allen Teilen der Welt stellt eine besondere Qualität, die sie deutlich unterscheidet von anderen Berliner Magistralen (wie z. B. Unter den Linden, Kurfürstendamm, Frankfurter Allee).“(4) Gleichzeitig ist der alte Mythos dieser Straße noch lebendig, der aus früheren Glanzzeiten stammt, als sie Teil der Reitstrecke war, die vom Berliner Stadtschloss bis zum Schloss Sanssouci in Potsdam führte.
Der Künstler schlägt vor, den Autoverkehr auf der Potsdamer für einen ganzen Tag auszusetzen und dafür eine Reiterin in vollständiger Jockey-Montur zu filmen, wie sie langsam im Schritttempo die 1,8 km lange Strecke passiert. Während dieser Zeit wird die Straße geräumt, in völliger Ruhe und ohne Menschen: Ein Ereignis, das alles andere bedeutet als Lärm und Hektik, wie sie hier Tag für Tag vorherrschen. In die Aktion sollen die Bewohner der Straße mit eingebunden werden. Die Gruppenerfahrung bedeutet intensive gemeinsame Vorbereitungen und das Zusammenwirken aller Anwohner, die den Rest des Tages die Möglichkeit haben, den Raum ihrer Straße ohne den üblichen Alltagslärm zu erfahren. Die Straße im Zustand voller Erwartung – eine nicht alltägliche Situation, der Traum eines jeden Bewohners. Der so entstehende Film soll hernach auf einem über der Straße angebrachten LED-Bildschirm gezeigt werden. Er ist gedacht als eine Art Geschenk an die Berliner, die sich selbst wie Touristen durch ihre Straße bewegen. Die zierliche Reiterin ist ein Gegenzitat zu kriegerischen oder heroischen Standbildern, die in vielen Kulturen der Welt Macht repräsentieren, wie z. B. dem römischen Mark Aurel-Denkmal. Die Stille als Ereignis will interpretiert werden. Der Künstler bietet uns einen Augenblick der Entspannung an, ein Innehalten mitten in der Hektik, eine Reflexion über die Umgebung und ihre Geschichte sowie über die Gründe unserer Hetze. In der Gegenwartskunst tauchen verstärkt solche Projekte auf, die von der Sehnsucht nach der Verlangsamung des Lebenstempos getragen sind, nach dem Ausbrechen aus dem Kreislauf von Arbeit, Konsum, Spaß und schnellen Eindrücken. Sie sind geprägt von der Sehnsucht nach dem richtigen Maß. Thorsten Goldberg gibt uns die Möglichkeit, von einer idealen Welt zu träumen, deren Vision er in seiner Kunst entwickelt.
(1) Maria und Ludwig Deiters. Aus: Berlin baut, No. 18.
(2) Karl Schlögel. Aus: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. 12. 1994.
(3) Anna Krenz, Potencjał pustki. Berlin jako miasto biedne, ale seksowne, in:
Biblioteka wizerunku miasta: miejskie powitanie, Warschau 2007, s. 9.
(4) http://www.potsdamerstrasse.com/files/ort.html, 2012.