Flüsse aus Wein + Bier +
Katharina Klara Jung
Stahltraversen, ein Metallrahmen, ein Aushub, schon halb überwuchert. Tagsüber erscheint Thorsten Goldbergs Arbeit „Milch + Honig +“ wie eine unfertige Baustelle, eine architektonische Fehlinvestition im Niemandsland hinter dem Bahnhof, die zu entfernen sich niemand die Mühe macht. Nur nachts, wenn das funktionelle, Effizienz orientierte Leben zum Erliegen kommt und sich die Landschaft der als „Kulturpark“ euphemisierten Transitfläche zwischen dem leeren Parkplatz und dem Sinne betäubenden Partytreiben des Schlachthofs wie im Halbschlaf der Dunkelheit ergibt, taucht die Botschaft der weißen Neonlettern auf, die sich wie eine Erscheinung vor dem dunklem Nachthimmel ausnehmen.
„FLÜSSE AUS WEIN + BIER + STRAßEN AUS INGWER + MUSKAT + EINE IDEALE GELÄNDEFORM + FRUCHTBARE BODENBEDECKUNG + KOSTBARE GEBÄUDE IN DENEN NIEMAND KAUFT ODER VERKAUFT + AUCH IST DORT WEDER KRÜPPEL NOCH BLINDER NOCH SCHIELAUGE NOCH STUMMER NOCH KRÄTZE- ODER PICKELLEIDER NOCH MISSGEBURT + JEDER IST VOLLKOMMEN SCHÖN AN ALLEN GLIEDERN + DIE KRAFT DER MÄNNER MIT LUST BEI IHREN WEIBERN ZU LIEGEN LÄSST NIEMALS NACH +“
lautet der um den Metallrahmen laufende Text, der nur unter nicht unbeträchtlicher Verrenkung der Halswirbel zu lesen ist; ein Versprechen auf jene besondre Welt, die schon seit Jahrhunderten als Antagonismus zum himmlischen Jerusalem die Fantasie der Menschen beflügelt. Thorsten Goldberg verspricht nichts weniger als die Errichtung des Schlaraffenlandes, dem Utopia der ungezügelten Freiheit, in dem die Kinder bereits erwachsen zur Welt kommen und die Frauen auf ewig jungfräulich bleiben.
Diese Vision dieses Landes der absoluten Freiheit gepaart mit hemmungsloser Völlerei und sexueller Freizügigkeit ist ein Menschheitstraum, der sich in dieser Form der bis ins Mittelalter und darüber hinaus zurückverfolgen lässt. Ende des 17. Jahrhunderts machte sich der kaiserliche General Johann Andreas Schnebelin auf, die Beschaffenheit des phantastischen Luilekkerlandes in einem Buch „worinnen all und jede Laster der schalckhafftigen Welt als besondere Königreiche, Herrschaften und Gebiete, mit vielen läppischen Städten (…) samt vielen leßwürdigen Einfällen aufs deutlichste beschrieben“ waren, in allen Einzelheiten mit Städtenamen und Flüssen, darzulegen. Ausgehen von diesem Text entstand um die Wende zum 18. Jahrhundert kartographieren die „Accurata Utopiae Tabula“, die wahre Karte des Paradieses, mit der sich Thorsten Goldberg seit mehreren Jahren beschäftigt. Er zieht die Grundlage seiner Arbeiten aus den mit Namen wie Schlampenmorast, Wollustberg und dem Ampt Geilhausen deftig betitelten Regionen und Städten und dem Konzept eines Landes der unerfüllten Wünsche gleichermaßen.
Auf dem städtebaulich noch im Umbruch befindlichen Gelände neben den Bahngleisen kündet nun die Konstruktion von der Errichtung des Landes, in dem alle Träume wahr werden, in dem das Gold auf der Straße liegt und die Zivilisationskrankheit der imperativen Produktivität sich im natürlichen Überfluss auflöst. Niemand muss arbeiten, sich um die Bezahlung der Miete sorgen, Kalorien zählen oder sonst eine Anstrengung unternehmen. Der Status Quo erhält sich selbst, ein riesiges sinnliches Perpetuum mobile, im dem der Müßiggang den Fortschritt ersetzt und in letzter Konsequenz die Triebhaftigkeit an die Stelle der Reflexion tritt.
Der Metallrahmen allerdings ist leer, dort wo das Bauschild sich befinden sollte, etwas Materielles, Greifbares, gibt es nichts als den dunklen Himmel. Weniger eine Projektionsfläche als vielmehr ein Fenster ist es, das in der Arbeit entsteht, ein Fenster, bei dem Nicht die Aussicht sondern das Durchsehen selbst Sinn und Zweck sind. Über eine Holztreppe gelangt man auf den von Wildgräsern und sogar Sonnenblumen dicht bewachsenen Grund des Aushubs – eines seltsam perfekten Aushubs mit exakten 10 Metern Durchmesser und einem Neigungswinkel von präzisen 45 Grad. Dort unten auf dem fast schon romantisch chaotischen Stück Wiese, wie aus einer anderen Gegend ausgestanzt an diesen Ort transplantiert, verschwindet die vertraute Umgebung. Die Träumereien, die normalerweise nach einem Seufzen und einem verträumten Blick aus dem Fenster wieder vergessen sind, bekommen eine quasi-reale, eine physische Präsenz.
Hier unten, hinter dem Bahnhof, soll es gebaut werden, die Utopie tritt aus der individuellen Ideenwelt über in die Bürokratie- und Marketinghölle, wird beschlossen, geplant, abgebrochen und letzen Endes vergessen. Ein euphorisches Bauvorhaben, dessen Grundlagen sich im nüchternen Tageslicht betrachtet als sinnlos und unmöglich erweisen. Angesichts der strahlenden Schrift wie das verlockende Halleluja einer Sekte im Rekrutierungsfieber allerdings ist es leicht, die Abwesenheit des Inhalts zu vergessen.
Und doch werden all diese theoretischen Überlegungen dem Gefühl nicht gerecht, wenn man in der Dunkelheit vor dem unwirklichen Schild steht, diesem mächtigen, irrationalen Gefühl, so kurz davor zu sein, jemand hat sogar schon angefangen, man muss es nur noch fertig machen und dann futtert man sich durch den Berg aus Reisbrei und muss sich einfach um nichts mehr kümmern.
Thorsten Goldberg setzt der Sehnsucht ein Denkmal, doch das Versprechen aus Licht umgibt ein Nichts, steht vor einem wilden Loch inmitten der vertrauten Wiese. Der Traum vom Schlaraffenland ist eitel, einer, der gespeist wird von jenem Verlangen, das, einmal erfüllt, den Menschen von sich selbst befreit und ihn mit nichts als dem wirren Blick völliger Sinnlosigkeit in den eigenen Untergang entlässt.
* Schnebelin, Johann Andreas: „Erklärung der Wunder=seltzamen Land = Charten Utopiae, so da ist/ das neu = entdeckte Schlaraffenland/ Worinnen All und jede Laster der schalckhafftigen Welt/ als besondere Königreiche/ Herrschaften und Gebiete/ mit vielen läppischen Städten/ Festungen/ Flecken und Dorffern/ Flüssen/ Bergen/ Seen/ Insuln/ Meer und Meer = Busen/ wie nicht weniger Dieser Nationen Sitten/ Regiment/ Gewerbe/ samt vielen leßwürdigen Einfällen aufs deutlichste beschrieben; Allen thörrechten Läster = Freunden zum Spott/ denen Tugend liebenden zur Warnung/ und denen melancholischen Gemüthern zu einer ehrlichen Ergetzung vorgestellet. Gedruckt zu Arbeitshausen/ in der Graffschafft Fleissig/ in diesem Jahr da Schlarraffenland entdecket ist“, Ende 17. Jahrhundert