Stahlprofilrahmen mit umlaufenden weißen und blauen Leuchtstoffbuchstaben und ein kreisrundes Erdloch, realisiert im Rahmen des Wiesbadener Kunstsommers 2006 „Wo bitte geht’s zum Öffentlichen?“.
Ein 450 x 350 x 20 cm großer Stahlprofilrahmen mit umlaufenden weißen und blauen Leuchtstoffbuchstaben ist auf zwei 11 m hohe Stahltraversen montiert. Die Konstruktion ist vor einem mit Wildblumen bewachsenen und über eine Holzleiter zu erreichenden kreisrunden Erdloch (10 m Durchmesser, 2 m Tiefe, 45° Neigung) am Eingang einer großen Freifläche hinter dem Wiesbadener Hauptbahnhof aufgestellt. Stahltraversen, ein Metallrahmen, ein Aushub, schon halb überwuchert. Tagsüber erscheint Thorsten Goldbergs Arbeit wie eine unfertige Baustelle, eine architektonische Fehlinvestition im Niemandsland hinter dem Bahnhof, die zu entfernen sich niemand die Mühe macht. Nachts, wenn das funktionelle, zielorientierte Leben zum Erliegen kommt und sich die Landschaft der als „Kulturpark“ euphemisierten Transitfläche zwischen dem leeren Parkplatz und dem Partytreiben auf dem ehemaligen Schlachthof wie im Halbschlaf der Dunkelheit ergibt, taucht die Botschaft der weißen Neonlettern auf, die sich wie eine Erscheinung vor dem dunklem Nachthimmel ausnehmen.* Der leuchtende Text, der um den Stahlprofilrahmen herumläuft, ist nur unter beträchtlicher Verrenkung zu lesen und zitiert Beschreibungen des Schlaraffenlandes, beispielsweise des „Sterfboeck“ von 1491: „FLÜSSE AUS WEIN + BIER + STRAßEN AUS INGWER + MUSKAT + EINE IDEALE GELÄNDEFORM + FRUCHTBARE BODENBEDECKUNG + KOSTBARE GEBÄUDE IN DENEN NIEMAND KAUFT ODER VERKAUFT + AUCH IST DORT WEDER KRÜPPEL NOCH BLINDER NOCH SCHIELAUGE NOCH STUMMER NOCH KRÄTZE- ODER PICKELLEIDER NOCH MISSGEBURT + JEDER IST VOLLKOMMEN SCHÖN AN ALLEN GLIEDERN + DIE KRAFT DER MÄNNER MIT LUST BEI IHREN WEIBERN ZU LIEGEN LÄSST NIEMALS NACH +“
Die Idee des Schlaraffenlandes beruht auf den Legenden eines Landes, in dem unerfüllte Wünsche Wirklichkeit werden. In ironischer Abgrenzung zum biblischen, auf die Befreiung allen Irdischen ausgerichteten Paradies, regt es zu sinnlichen und materiellen Fantasien an. Thorsten Goldbergs Leuchtanzeige verspricht nichts weniger als die Errichtung des Schlaraffenlandes, dem Land unbegrenzter Wünsche und ungezügelter Lüste, in dem die Kinder bereits erwachsen zur Welt kommen und die Frauen auf ewig jungfräulich bleiben. Als Menschheitstraum lassen sich Visionen von diesem fiktiven Land bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Ende des 17. Jahrhunderts hat der kaiserliche General Johann Andreas Schnebelin das „Luilekkerland“ als Land beschrieben, worin es „all und jede Laster der schalckhafftigen Welt als besondere Königreiche, Herrschaften und Gebiete, mit vielen läppischen Städten (…) samt vielen leßwürdigen Einfällen“** gibt. Auf dem städtebaulich noch im Umbruch befindlichen Gelände neben den Bahngleisen kündet die Konstruktion von der Errichtung eines Reiches, in dem alle Träume wahr werden, in dem das Gold auf der Straße liegt und sich alle Nöte in natürlichem Überfluss auflösen. Niemand muss arbeiten, sich um die Bezahlung der Miete sorgen oder eine sonstige Anstrengung unternehmen. Der Status quo erhält sich selbst, ein sinnliches Perpetuum mobile, indem der Müßiggang den Fortschritt ersetzt und in letzter Konsequenz Triebhaftigkeit an die Stelle der Reflexion tritt. Die Konstruktion des Objektes ist einem modernen Bauschild nachempfunden, das mit leuchtender Neonschrift nachts weithin sichtbar ein Bauvorhaben ankündigt. Der Metallrahmen ist allerdings leer. Dort, wo sich das Bauschild befinden sollte, gibt es nichts als den dunklen Himmel. Weniger eine Projektionsfläche als vielmehr ein Fenster entsteht in der Arbeit, bei dem nicht die Aussicht, sondern das Durchsehen selbst Sinn und Zweck ist. Über eine Holztreppe gelangt man auf den von Wildgräsern dicht bewachsenen Grund des seltsam perfekt geformten Aushubs. Dort unten auf dem fast schon romantisch chaotischen Stück Wiese, wie aus einer anderen Gegend ausgestanzt und an diesen Ort transplantiert, verschwindet die vertraute Umgebung. Das Bauschild ist ein Denkmal der Sehnsucht, die Kant als „einen leeren Wunsch“ (hier der leere Rahmen) und als „Zeit zwischen dem Begehren und Erwerben des Begehrten vernichten zu können“*** definiert.
* Katharina Klara Jung, Milch + Honig +, in Katalog: Wo bitte geht’s zum Öffentlichen, Wiesbaden 2007.
** Vgl. Johann Andreas Schnebelin: „Erklärung der Wunder = seltzamen Land = Charten Utopiae, so da ist/ das neu = entdeckte Schlaraffenland/ Worinnen All und jede Laster der schalckhafftigen Welt/ als besondere Königreiche/ Herrschaften und Gebiete/ mit vielen läppischen Städten/ Festungen/ Flecken und Dorffern/ Flüssen/ Bergen/ Seen/ Insuln/ Meer und Meer = Busen/ wie nicht weniger Dieser Nationen Sitten/ Regiment/ Gewerbe/ samt vielen leßwürdigen Einfällen aufs deutlichste beschrieben; Allen thörrechten Läster = Freunden zum Spott/ denen Tugend liebenden zur Warnung/ und denen melancholischen Gemüthern zu einer ehrlichen Ergetzung vorgestellet. Gedruckt zu Arbeitshausen/ in der Graffschafft Fleissig/ in diesem Jahr da Schlarraffenland entdecket ist“, Ende 17. Jahrhundert.
*** Immanuel Kant: Schriften zur Anthropologie und Pädagogik, Leipzig 1839, S. 276.